Das tibetische Staatsorakel (sku-rten) des Klosters Nechung (gNas-chung)
Das tibetische Staatsorakel des Klosters Nechung fungierte nicht nur auf höchster Ebene innerhalb des tibetischen Buddhismus als eine wichtige Instanz der Zukunftsvorhersage, sondern war auch in die Entscheidungsabläufe des tibetischen Staatswesens integriert. In der tibetischen Kultur beruht die Orakelbefragung auf der Vorstellung, dass eine Gottheit von einer Person Besitz ergreift und durch diese spricht. Das Medium gilt daher als Gefäß der Gottheit (lus-g.yar) und trägt im Tibetischen unterschiedliche Bezeichnungen. Der Dalai Lama befragt es noch heute in wichtigen Entscheidungen und folgt immer, trotz seiner persönlichen Vorbehalte, den Ratschlägen des Mediums.
In Tibet gab es mehrere wichtige Orakel, üblicherweise Männer, die man als Staatsorakel bezeichnen kann. Neben dem Nechung-Orakel waren dies das Orakel Gadong (dGa’-gdong) und Lhamo Chökyong (lHa-mo chos-skyong). Daneben gab es andere offiziell anerkannte Orakel, welchen für ihren Unterhalt ein Titel und Landbesitz zugesprochen wurde. Diese konnten sowohl Männer als auch Frauen sein.
Inhaltsverzeichnis
1. Zukunftsvorhersage und tibetische Orakel
1.1. Beispiele von Methoden der Zukunftsvorhersgae
1.2. Tibetische Orakel
2. Geschichte der Gründung des Klosters Nechung und der Etablierung des Staatsorakels
3. Der Zustand der Besessenheit durch einen Gott
4. Prüfung, Ausbildung und Anerkennung als Medium
5. Die Trance
6. Konsultationen und Zukunftsvorhersagen der Staatsorakel aus historischer Sicht
6.1. Beispiele für die Feststellung des Status einer Inkarnation (Dalai Lama)
6.2 Die Folgen unrichtiger Verhersagen
6.3. Beeinflussung politischer Entscheidungen
7. Namensliste der bekannten Nechung-Orakel
8. Literatur
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Abbildung 2: Das Staatsorakel Ta bla-ma Lobsang Namgyel (Blo-bzang rnam-rgyal). Geboren 1894, Amtseinführung als Orakel 1934, gestorben 11. Juni 1945 | | Abbildung 3: Das Staatsorakel Lobsang Jigme (Blo-bzang ´jig-med).Gestorben 1984 in Dharamsala |
1. Zukunftsvorhersage und tibetische Orakel
1.1. Beispiele von Methoden der Zukunftsvorhersage in Tibet
Die Orakelbefragung ist eine Methode der Divination (mo), eine Möglichkeit zur Voraussage der Zukunft. Die Divination ist nicht nur ein fester Bestandteil des volksreligiösen Buddhismus, sondern wird auch auf Anfrage von angesehenen Geistlichen der unterschiedlichsten Schulrichtungen ausgeübt. Andere Formen der Zukunftsvorhersage, ohne hier auf systematische Unterscheidungen einzugehen, sind beispielsweise:
Die Interpretation von Zeichen oder Visionen, die auf einem Spiegel, einem glatten Stein, der Oberfläche eines Sees oder dem wolkenlosen Himmel sichtbar sind (pra).
Die Beobachtung und Deutung von Farbe und Form der Flamme einer Butterlampe (mar-me brtag -pa).
Das dreimalige, von zwei willkürlich erfaßten Punkten aus gegenläufige Abzählen der 108 Perlen einer Gebetskette (’phreng-ba), das ursprünglich aus der Bon-Religion stammen soll.
Eine weitere Methode ist die auch in Indien und Zentralasien bekannte Würfelprognostik, die Interpretation von durch Würfeln ermittelten Zahlen (sho-mo).
1.2. Tibetische Orakel
In der tibetischen Kultur beruht die Orakelbefragung auf der Vorstellung, dass eine Gottheit von einer Person Besitz ergreift und durch diese spricht. Das Medium gilt daher als Gefäß der Gottheit und trägt im Tibetischen unterschiedliche Bezeichnungen:
Sehr höflich, zumeist nur für höchste Orakel, etwa das Staatsorakel von Nechung gebräuchlich, sind die Termini sku-rten bzw. sku-rten-pa „der, dessen Körper als Träger oder Stütze dient“ und chos-rje, „Herr des Dharma“. Dahinter steht die Vorstellung, dass die Schutzgottheiten, die noch nicht aus der Welt ausgeschieden sind (’jig-rten-las ma-’das-pa) zu den Gottheiten gehören, die sich in einem menschlichen Wesen verkörpern oder durch es sprechen können. In der Regel ist der sku-rten-pa ein Mönch, der auch eine gewisse Schulung durchlaufen muss.
Andere Begriffe sind lus-khog bzw. sku-khog, lha-bka’, lha-pa und lha-’bab(-mkhan). Beispielsweise wird der Terminus lha-pa sowohl für Schamanen als auch für Orakel verwendet, die von den Schutzgottheiten der Weltenbewohner (’jig-rten-pa’i srung-ma) besessen werden.
In Tibet gab es mehrere wichtige Orakel, üblicherweise Männer, die man als Staatsorakel bezeichnen kann. Neben Nechung waren diese das Orakel Gadong (dGa’-gdong) und Lamo Chökyong (lHa-mo chos-skyong). Daneben gab es andere, offiziell anerkannte, welchen zum Unterhalt ein Titel und Landbesitz zugesprochen wurde; diese konnten sowohl Männer als auch Frauen sein.
Ein bedeutendes Orakel war z.B. Drepung Tenma (´Bras-spungs bstan-ma), eine Frau, die in einem kleinen Dorf in der Nähe des Klosters Drepung (´Bras-spungs) lebte. Die tibetische Regierung verlieh ihr den vierten Rang eines höheren Beamten (rim-bzhi). Sie besaß die Erlaubnis, sowohl in der Tempelhalle von Drepung als auch in der dortigen Residenz des Dalai Lama (dGa’- ldan pho-brang) zu praktizieren. Ansonsten gelten die Frauen jedoch meist als niedere Orakel, die nur auf lokaler Ebene weissagten.
2. Geschichte der Gründung des Klosters Nechung und der Etablierung des Staatsorakels
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Abbildung 4: Das Kloster Nechung (gNas-chung) in Tibet |
Das Hauptstaatsorakel war und ist auch heute noch das Orakel von Nechung. Das Kloster Nechung liegt in Tibet unmittelbar unterhalb des Klosters Drepung; im indischen Exil wurde das gleichnamige Kloster unterhalb der Tibetan Library of Works and Archives in Dharamsala errichtet.
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Abbildung 5: Das neuerrichtete Kloster Nechung in Dharmsala | | Abbildung 6: Das gegenwärtige Staatsorakel Thubten Ngödrub (Thub-bstan dngos-grub). Geboren 13. Juli 1958 |
Der Ursprung des Klosters Nechung steht in direktem Zusammenhang mit dem Staatsorakel, die Geschichten über seine Entstehung variieren jedoch. Fest steht aber, dass dieses Nyingmapa-Kloster (rNying-ma-pa) zur Zeit des 5. Dalai Lama (1617-1682) erbaut wurde. An dieser Stelle sei diejenige Entstehungsgeschichte aufgeführt, die einem Beamten der tibetischen Regierung zufolge die korrekte Version beinhaltet:
Eine der Hauptgottheiten, die sich im Orakel von Nechung manifestieren, ist die Schutzgottheit Pehar.
Die Tibeter glauben, dass Pehar sich zunächst mehrere Jahrhunderte in Samye (bSam-yas), dem ältesten Kloster Tibets, aufgehalten hat. Seine Emanation Dorje Dragden (rDo-rje grags-ldan) hoffte, im Kloster Tshel Gungthang (Tshal Gung-thang) zu einer bedeutenden Schutzgottheit zu werden. Er manifestierte sich mehrmals vor den Augen der Mönche dieses Klosters, doch diese waren vom Verhalten Dorje Dragdens irritiert und luden die Gottheit daher nicht zum Verweilen im Kloster ein. Im Gegenteil, sie nannten diese Gottheit einen üblen Geist (’dre-ngan) und zwangen ihn in eine Holzschachtel, die sie in den Fluss warfen. Ein Mönch fand dieses Holzkistchen. Dorje Dragden konnte daraus entkommen und sich in einem Baum verstecken, um den herum später ein Tempel des Klosters Nechung gebaut wurde. Da sie damit bereits den Hauptminister der sKu-lnga-Dharmapāla-Gottheiten hatten, luden die Mönche danach auch deren Oberhaupt ein und so zog Pehar alsbald nach Nechung um. Nach tibetischer Vorstellung spricht aus dem Nechung-Orakel die Gottheit Dorje Dragden, sobald Pehar ermüdet.
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Abbildung 7: Die Gottheit Pehar |
3. Der Zustand der Besessenheit von einer Gottheit
Der Zustand, der als Besessenheit von einer Gottheit interpretiert wird, beginnt zumeist mit körperlichem Unwohlsein, einer Art geistigen Unkontrolliertheit und steht häufig in Verbindung mit Träumen. Dieses körperliche Unwohlsein tritt in jungen Jahren, meist in der Pubertät, zum ersten Mal auf. Diese Krisenzeit, in der das Medium häufig Krankheiten erleidet, wird „Krankheit der Gottheit“ (lha-nad) genannt.
Der Initiation als Orakel gehen also körperliches Unwohlsein, geistige Verwirrtheit oder eine andere einschneidende Lebenskrise voraus. Die erste Trance erfolgt unkontrolliert, sie tritt spontan, plötzlich, unvorbereitet und ohne Riten oder Zeremonien ein. Loden Sherab Dagyab erklärt sie in seinem Tibetisch-Tibetisch-Wörterbuch als „ohne auf eine Einladung gerichtetes plötzliches Eintreten einer Gottheit (lha) oder Schutzgottheit (srung-ma) in das Medium (chos-rje).
Die Fähigkeit des Mediums besteht darin, die Trance gewollt und kontrolliert zu induzieren, was jedoch nicht immer gelingt, denn selbst nach der Anerkennung als Medium kann eine Trance unkontrolliert auftreten. Meist wird das Medium in einer Séance von einer Gottheit aufgesucht, kann jedoch von bis zu sechs Gottheiten nacheinander besessen werden. Dieses Eintreten einer Gottheit in das Medium nennt man „Herabsteigen der Gottheit“ (lha-’bab).
4. Prüfung, Ausbildung und Anerkennung als Medium
Fällt eine Person zum ersten Mal in Trance, soll ein erfahrener Laie oder ein Kleriker klären, ob tatsächlich eine Gottheit oder nur der Geist eines Toten (’das-log) Besitz von der Person ergriffen hat.
Mit verschiedenen Prüfungsverfahren stellt man dann fest, welche Gottheit das Medium befallen hat: Hierzu bindet man beispielsweise Daumen und Finger beider Hände sowie die Zehen und auch die Haare der zu testenden Person mit einer Kordel zusammen. Dadurch soll der Geist gezwungen werden, im Körper des Mediums zu verweilen, um Fragen nach seiner Identität und den Gründen für das Verweilen etc. zu beantworten. Erst wenn die Kordeln gelöst werden, kann er das Medium wieder verlassen. Ergibt das Prüfverfahren, dass eine niedere Gottheit das Medium besetzt hat, bestehen zwei Möglichkeiten: Entweder wird sie mit einer Zeremonie vertrieben und ihre Rückkehr verhindert oder aber man versucht, sie zu unterwerfen und durch Gelübde an die buddhistische Lehre zu binden, so dass sie im Gefolge eines Schützers der Lehre fungieren kann. Lehnt sie aber ab, die Gelübde zu nehmen, so wird sie durch ein Feueropfer (sbyin-sreg) vernichtet.
Wenn ein Medium seine Funktion als Orakel annimmt, wird es von Mönchen – jedoch nicht von einem anderen Orakel – besonders geschult.
Die Medien, die für die höchsten Schutzgottheiten der Weltenbewohner (’jig-rten-pa’i srung-ma) fungieren, müssen zur Prüfung in das Kloster Nechung, wo das neue Medium sowie das Nechung-Orakel sich in Trance versetzen. Nachdem Pehar die volle Kontrolle über das Nechung-Orakel erlangt hat, nimmt dies Saatkörner, die ein Assistent bereithält, bespricht sie mit einem Mantra und wirft sie in Richtung des neuen Mediums. Ist dieses Medium von einer hohen Schutzgottheit, einem Dharmapāla, besessen, wird es ebenfalls in eine Trance fallen. Es erhebt sich und nähert sich dem Staatsorakel, um ihm ein Zeremonialtuch (Kathak) anzubieten. Dann erfragt Pehar durch das Staatsorakel den Namen und den Rang der Gottheit des neuen Orakels. Verläuft die Befragung zufriedenstellend, wird der Gottheit am Ende ein Gelübde zum Schutz der buddhistischen Lehre abgenommen. Ist das Medium jedoch von einem niederen Geist besessen, wird es weglaufen.
Eine der Grundvoraussetzungen für die Karriere als Staatsorakel ist große körperliche Kraft sowie das Bestehen einer strengen Prüfungszeremonie. Das Vortäuschen einer Trance zog seinerzeit strenge Sanktionen der tibetischen Regierung nach sich. Besteht das Medium die Prüfung, erhält es eine gesiegelte Urkunde mit bestimmten Verhaltensvorschriften. Mit dem Bestehen der Prüfung werden die Gottheiten ermächtigt, durch das Medium Weisungen zu erteilen.
Nach seiner Anerkennung als Staatsorakel wird der Kandidat mit einer rTen’-’brel-Zeremonie eingesetzt, die tibetische Regierung überreicht Geschenke und verleiht den Titel eines Mönchsbeamten.
Das Nechung-Orakel als Angehöriger der Gelugpa-Schule ist selbstverständlich dem Zölibat verpflichtet, die meisten anderen Orakel dürfen jedoch heiraten.
5. Die Trance
Viele Medien werden von der Gottheit veranlasst, in regelmäßigen Abständen in Trance zu fallen, wenigstens einmal im Monat; meistens am dritten oder fünften Tag des Neumondes.
Das Medium kann zu jeder Zeit versuchen, die Gottheit zu veranlassen, in seinen Körper einzutreten und die Beherrschung dieser Kunst ist letztlich die Voraussetzung dafür, Anfragen zeitnah zu beantworten.
Das jetzige Orakel von Nechung, Thubten Ngödrup (Thub-bstan dngos-grub), erzählte, dass er vor einem Trancezustand Veränderungen an sich bemerke, ein, zwei Tage, manchmal auch nur wenige Stunden vor der Trance, und dass seine Gefühle ihn irritieren. Wenn der Dalai Lama oder Mitglieder des Kabinetts eine Séance erbitten, trete dieser Zustand meist einen Tag vorher ein und verstärke sich mit dem Herannahen des Termins. An dem Tag, an dem er sein Kostüm trage und inmitten der singenden Mönche sitze, seien seine Empfindungen sehr stark und das Denken falle ihm schwer. Thubten erinnere sich nicht an die Worte, die er als Medium während einer Séance spreche. Kurz davor nehme er noch wahr, was um ihn herum geschehe, sinke dann jedoch in eine Art Schlafzustand. Er vergleicht den Zustand der Trance mit einem Traum, an den man sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnert.
Der Dalai Lama schildert eine Séance folgendermaßen: „Die Zeremonie beginnt mit Anrufungen und Gebeten, die von Mönchen rezitiert werden. Dazu erklingen lange tiefe Töne von Hörnern, Becken und Trommel. Nach einer kurzen Zeit verfällt das Orakel in einen Trancezustand, und seine Assistenten, die ihn bisher gestützt haben, begleiten ihn zu einem kleinen Hocker vor meinem Thron. Wenn der erste Gebetszyklus zu Ende geht und der zweite beginnt, wird die Trance tiefer und tiefer. Nun setzt man ihm einen großen, schweren Helm auf den Kopf. Dieser wiegt weitere 15 kg; in den vergangenen Zeiten wog er sogar über 40 Kilo. Jetzt beginnt das Gesicht des Orakels sich zu verändern. Es nimmt einen wilden, sonderbaren Ausdruck an, mit hervorquellenden Augen und aufgeblähten Wangen. Sein Atem wird kurz und flach, und er beginnt, laut zu zischen. Dann hält sein Atem kurz an. Genau in diesem Augenblick wird der Helm mit einem Knoten festgebunden, und zwar so fest, daß der Kuten zweifellos erwürgt werden würde, ginge nicht etwas sehr Außergewöhnliches vor sich. Er ist nun vollkommen besessen.“
Traditionellerweise wurde das Nechung-Orakel am 10. Tag des ersten tibetischen Monats im alten Kloster Meru hinter dem Jokhang anläßlich einer offiziellen Feier unter dem Vorsitz des Dalai Lama zu einer Trance aufgefordert. Außer dem Dalai Lama können Mitglieder des Kabinetts, hochgestellte tibetische Geistliche oder Klöster um eine Séance bitten. In dringenden Fällen werden zusätzliche Séancen abgehalten. Heute finden sie zwar seltener als früher in Tibet statt, doch nach wie vor am 10. Tag des ersten tibetischen Monats.
Ling Rinpoche (Gling rin-po-che), einer der beiden Lehrer des Dalai Lama, bat im Exil um eine regelmäßig durchzuführende sommerliche und winterliche Séance, die sich auch so etabliert haben. Zur Séance trägt das Medium besondere Kleidung, am auffälligsten ist sicherlich der schwere, aus kostbaren Metallen und Edelsteinen gefertigte Helm. Das schwere Kostüm wird auf Anraten des Dalai Lama nun häufiger getragen, nicht nur am 10. Tag des 1. Monats und anlässlich des Drepung-Lhatshe-Festes. Da das Nechung-Kloster in Tibet mit dem Kloster Drepung eng verbunden war, begann man im indischen Exil, das Nechung-Orakel ebenfalls häufiger in das in Südindien gelegene Kloster Drepung einzuladen.
6. Konsultationen und Zukunftsvorhersagen der Staatsorakel aus historischer Sicht
Vor allem das Nechung-Orakel wurde bei folgenden Anlässen konsultiert:
- bei der Suche nach der Wiedergeburt des Dalai Lama
- bei innenpolitischen Fragen sowie
- bei außenpolitischen Schwierigkeiten und kriegerischen Auseinandersetzungen, aber auch bei schwerwiegenden Erkrankungen, vor allem des Dalai Lama.
Der Personenkreis, der sich an das Nechung-Orakel wendet, ist eingeschränkt: es sind in erster Linie der Dalai Lama und die Minister bzw. andere Angehöriger der tibetischen Regierung und der Oberschicht..
6.1. Beispiele für die Feststellung des Status einer Inkarnation (Dalai Lama)
Als Lhabsang Khan im Jahre 1705 mit Gewalt die politische Macht in Tibet an sich riss, zielte eine seiner ersten Amtshandlungen auf die Absetzung des 6. Dalai Lama Tshangyang Gyatsho (Tshangs-dbyangs rgya-mtsho), der wegen seines dem Weltlichen zugeneigten Lebenswandels von den Qoshot-Mongolen als Dalai Lama abgelehnt wurde. Um die Festnahme und Verbannung des 6. Dalai Lama zu verhindern, brachten ihn die Mönche des Klosters Drepung im Ganden Phodrang ihres Klosters in Sicherheit. Am nächsten Tag befragten sie das Staatsorakel von Nechung zum Status des Dalai Lama. Das Orakel erklärte, Tshangyang Gyatsho sei zweifelsfrei der 6. Dalai Lama und dürfe den Feinden nicht in die Hände fallen. Lhabsang Khan ignorierte diese Feststellung des Orakels völlig, so dass es letztendlich zur Festnahme des 6. Dalai Lama kam, der anschließend in die Verbannung geschickt wurde.
Danach installierte Lhabsang Khan gegen den Willen der Tibeter seinen eigenen Favoriten als Dalai Lama (Gerüchte besagten, es sei sein leiblicher Sohn gewesen) und rief damit großen Unmut bei den Tibetern hervor, die schließlich ihren Kandidaten in dem osttibetischen Dorf Lithang fanden. Das Staatsorakel bestätigte den Jungen aus Lithang als 7. Dalai Lama. Nach längeren Streitigkeiten erkannten auch die Chinesen Lobsang Kelsang Gyatsho (Blo-bzang bskal-bzang rgya-mtsho) schließlich als Dalai Lama an.
Über weitere Aktivitäten des Staatsorakels wird vor allem wieder bei der Suche nach der Wiedergeburt des 12. Dalai Lama berichtet. Dazu berücksichtigte man die Aussagen von mindestens zwei Orakeln: Das Nechung-Orakel soll die Namen der Eltern vorhergesagt und Hinweise zu seinem Geburtshaus gegeben haben. Das im Kloster Samye residierende Orakel Tsiu Marpo (Tsi’u dmar-po) erwähnte, das Haus stehe nahe eines Berges, der wie ein Elefant aussehe.
Nachdem man den 14. Dalai Lama in dem Ort Tagtser (sTag-rtser) in Amdo aufgefunden hatte, bestätigte das Orakel von Nechung die Richtigkeit der Entscheidung.
6.2 Die Folgen unrichtiger Verhersagen
Das Nechung-Staatsorakel Gobo Chöje (Go-bo chos-rje) amtierte zu der Zeit, als die britische Armee aus Indien nach Tibet vordrang und erstmalig mit Tibetern zusammenstieß. Er war ein unglückseliges Medium, das mehrfach falsche Vorhersagen im Hinblick auf politische Ereignisse von sich gab.
Im Jahre 1886 war es zu einem Zwischenfall an der tibetisch-sikkimesischen Grenze gekommen. Sikkim stand damals unter britischem Einfluss, und die Tibeter versuchten ein Vordringen der Engländer nach Tibet verhindern. Das Staatsorakel wies sie an, einen Berg innerhalb der Grenzen des britisch besetzten Sikkims zu okkupieren und erklärte, von diesem Berg gingen magische Kräfte aus, die weitere Truppenbewegungen der Briten kontrollieren würden, vor allem für den Fall, dass diese versuchen sollten, in Tibet einzudringen. Die Vorhersage des Staatsorakels erwies sich als unrichtig, denn die Briten eroberten den Berg später ohne nennenswerten Widerstand seitens der Tibeter zurück.
Dieses Medium wurde auch für den Sieg der Briten über die Tibeter verantwortlich gemacht, den die Youngshusband-Expedition 1904 errang. Das Orakel hatte geweissagt, dass die Briten zwar das Herz Tibets erreichen, doch die Tibeter letztlich siegen würden. Als britische Truppen nach Lhasa gelangten, floh das Medium im Gefolge des Dalai Lama in die Mongolei. Nachdem die Briten sich zurückgezogen hatten, entließ die tibetische Regierung es aus seinem Amt.
Im Jahre 1934 beschuldigte man das Staatsorakel Lobsang Namgyel (Blo-bzang rnam-rgyal), dem sterbenskranken 13. Dalai Lama die falsche Medizin verabreicht zu haben, und zwar unter Einfluss eines feindlich gesinnten Tulku (sprul-sku) aus Nyarong. Lobsang Namgyel, der den offziellen Titel eines Ta bla-ma trug, wurde daraufhin degradiert und nur noch als gewöhnlicher Mönch behandelt. Sein Amt als Staatsorakel konnte er fortführen.
6.3. Beeinflussung politischer Entscheidungen
Im Jahre 1947 verweigerte die tibetische Regierung nach einer entsprechenden Anweisung des Nechung-Orakels einer britischen Bergsteigerexpedition die Erlaubnis, den Mount Everest zu besteigen.
Nachdem die Chinesen 1950 in Osttibet einmarschiert waren, befragte man das Orakel, ob dem 14. Dalai Lama vorzeitig die Macht zu übertragen sei. Und bevor die Situation wirklich kritisch wurde, schlug das Orakel vor, der Dalai Lama solle die Regierungsgeschäfte vom Regenten Tagdrag Rinpoche (sTag-brag rin-po-che) übernehmen, doch die Regierung ignorierte den Vorschlag. Als die Chinesen dann Lhasa erreichten, zog man das Orakel erneut zu Rate, doch die Gottheit Pehar lehnte es ab, in das Medium einzutreten, da seine früheren Ratschläge nicht befolgt worden waren. Eine andere Gottheit wies die tibetische Regierung an, dem damals minderjährigen 14. Dalai Lama die Macht zu übertragen.
Der Dalai Lama selbst schildert in seiner Autobiographie „Buch der Freiheit“ eine Orakelbefragung. Dieser Séance im Februar 1957 in der nordostindischen Stadt Kalimpong ging Folgendes voraus: Die indische Regierung unter Nehru hatte den Dalai Lama zu den Buddha-Jayanti-Feierlichkeiten zu Beginn des Jahres nach Indien eingeladen und während seines Aufenthaltes überlegte der Dalai Lama, ob er nicht in Indien bleiben solle. Er schreibt:
„Schließlich befragte ich das Orakel. Es gibt drei wichtige Orakel, bei denen sich der Dalai Lama Rat holen kann. Zwei davon, das Nechung- und Gadong-Orakel waren anwesend. Beide sagten, ich solle zurückkehren. Während einer dieser Konsultationen trat der frühere tibetische Premierminister Lukhangwa in den Raum, worauf das Orakel zornig wurde und ihn hinausschickte. Es war, als ob das Orakel wusste, dass Lukhangwa seine Entscheidung bereits getroffen hatte. Lukhangwa schenkte ihm aber keine Beachtung und setzte sich einfach hin. Nachher kam er zu mir und sagte: Wenn Menschen verzweifelt sind, befragen sie die Götter. Wenn die Götter verzweifelt sind, dann lügen sie“.
Am 1. April 1957 traf der Dalai Lama wieder in Lhasa ein.
Im Jahre 1959 kam es zu öffentlichen Protesten, die Bevölkerung versammelte sich vor dem Norbulingka und demonstrierte am Fuße des Potala gegen die Anwesenheit der Chinesen. Da die Situation sehr gefährlich erschien, befragte der Dalai Lama nun das Nechung-Orakel, das ihm aber riet, in Lhasa zu bleiben und den Dialog mit den Chinesen aufrecht zu erhalten. Doch der Dalai Lama zweifelte an der „Weisheit des Rates“ und versuchte selbst eine Mo-Divination, die aber ein ähnliches Ergebnis erbrachte. Auch als er einige Tage später das Orakel noch einmal befragte, gab es wieder die gleiche Antwort.
Einige Tage später riet das Orakel ihm mit den Worten „Geh, heute Abend noch!“ zur Flucht.
Der Dalai Lama schreibt hierzu in seiner Autobiografie: „Noch in Trance torkelte das Medium dann nach vorn, ergriff Papier und einen Stift und zeichnete klar und deutlich den Fluchtweg vom Ausgang des Norbulingka bis zum letzten tibetischen Dorf vor der indischen Grenze auf. Seine Anweisungen waren anders als man vielleicht erwartet hätte. Daraufhin brach das Medium, ein junger Mönch namens Lobsang Jigme (Blo-bzang ´jig-med), ohnmächtig zusammen, ein Zeichen, dass Dorje Dragden seinen Körper verlassen hatte.“
7. Namensliste der bekannten Nechung-Orakel
Śākya Yarphel (Śākya yar-’phel) (19. Jahrhundert)
Gobo Chöje (Go-bo chos-rje) (Ende des 19. Jahrhunderts – Anfang 20. Jahrhundert)
Gyeltshen Tharchin (rGyal-mtshan mthar-phyin)
Gobo Chöje (Go-bo chos-rje) (Erneute Amtsführung)
Ta bla-ma Lobsang Namgyel (Blo-bzang rnam-rgyal) (Siehe Abbildung 2. Geboren 1894, Amtseinführung als Orakel 1934, gestorben 11. Juni 1945)
Lobsang Jigme (Blo-bzang ´jig-med) (Abbildung 3. Gestorben 1984 in Dharamsala)
Thubten Ngödrub (Thub-bstan dngos-grub) (Abbildungen 1 und 6. Geboren 13. Juli 1958)
Literatur
Dalai Lama: Das Buch der Freiheit. Die Autobiographie des Friedensnobelpreisträgers. Bergisch Gladbach 1990.
Hanna Havnevik: A Tibetan Female State Oracle. In: Religion and Secular Culture in Tibet. Tibetan Studies II. Leiden/ Boston/ Köln 2002.
Réne de Nebesky-Wojkowitz: Oracles and Demons of Tibet. The Cult and Iconography of the Tibetan Protective Deities. S-Gravenhage 1956.
Dieter Schuh: Bericht über die filmische Dokumentation einer tibetischen Orakel-Séance. In: Zentralasiatische Studien 13, S. 511-531.
Günter Schüttler: Die letzten tibetischen Orakelpriester. Psychiatrisch-neurologische Aspekte. Wiesbaden 1971.
Autorin:Petra H. Maurer, 2010. Bildnachweise: Abbildungen 1und 6 aus: http://nechung.org/oracle/about.php . Abbildung 2: Wikimedia Commons http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_135-S-16-22-36,_Tibetexpedition,_Staatsorakel.jpg . Abbildung 3: The Tibet Album http://tibet.prm.ox.ac.uk/photo_2001.59.7.3.1.html . Abbildung 4: Ondřej Žváček in Wikimedia Commons http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nechung.jpg . Abbildung 5: Bob Witlox in http://www.panoramio.com/photo/3061427 . Abbildung 7 aus: Himalyan Art http://www.google.de/imgres?imgurl=http://imageserver.himalayanart.org/fif%3Dfpx/213.fpx%26obj%3Diip,1.0%26hei%3D262%26cvt%3Djpeg&imgrefurl=http://www.himalayanart.org/image.cfm/213.html&h=262&w=202&sz=23&tbnid=G9QvplBbSp0vtM:&tbnh=112&tbnw=86&prev=/images%3Fq%3DPehar&hl=de&usg=__SYqA6KyCjU9UVH3rkbOCoXi80L4=&sa=X&ei=aWBHTNLqK-SgsQbSzKB1&ved=0CCUQ9QEwBA .