Tibet-Encyclopaedia

 

Abbildung 1: Die ersten 18 Zeilen der Schriftrolle des Rechttextes gTsang khrims-yig chen-mo.Handschriftenrolle aus der Sammlung der National Archives, Kathmandu, Nepal

Tibetische Gesetzbücher (khrims-yig)

Die tibetischen Rechts- oder Gesetzbücher (khrims-yig) bildeten die Grundlage für die Rechtssprechung in Tibet. Sie sind in mehreren Versionen überliefert, die bis auf den Rechtstext in 15 Kapiteln alle aus dem 17. Jh. stammen. Rechtstexte aus der frühen Zeit sind nur fragmentarisch erhalten oder wir kennen sie nur aus Zitaten; diese sollen hier erstmal nicht weiter berücksichtigt werden. Die tibetischen Rechtstexte waren ausschliesslich Handschriften und keine Blockdrucke, sie waren entweder zu Büchern gebunden oder bestanden aus einer einzigen langen Papierrolle.

Der Inder Sarat Chandra Das hat einige Abschnitte der Rechtstexte in einer englischen Übersetzung als Anhang zu seinem ausführlichen Reisebericht von 1885 nach Lhasa vorgestellt, ohne jedoch die genauen Quellen anzugeben. Der britische Offizier J. Claude White veröffentlichte im Jahre 1909 eine Inhaltsanalyse des Rechtstextes in 16 Kapitel. Die Version in 13 Kapitel liess Sir Charles Bell von seinem einheimischen Informanten ins Englische übersetzen. Diese unveröffentlichte Übersetzung befindet sich in den Beständen des Britischen Museums. Obwohl in neuerer Zeit Wissenschaftler sich mit dem traditionellen Recht in Tibet beschäftigen, gibt es jedoch bisher keine philologische Bearbeitung dieser Werke.

Inhaltsverzeichnis

1. Die Hauptrechtstexte (in chronologischer Reihenfolge)
1.1. Der Rechtstext in 15 Kapiteln (14. Jh.)
1.2. Der Rechtstext in 16 Kapiteln (Anfang des 17. Jh.)
1.3. Der Rechtstext in 12 Kapiteln (zwischen 1642 und 1652)
1.4. Der Rechtstext in 13 Kapiteln (ca. 1653-54)
2. Texte mit ergänzenden Hinweisen zur tibetischen Rechtspraxis
2.1. Die Antworten des Regenten Sanggye Gyatso an den König von Sikkim zu dessen Fragen bezueglich der tibetischen Rechtstexte (ca. 1695)
2.2. She-bam chen-mo dper-brjod (Sammlung von Eidesformeln und Gerichtsurteilen) (ab 1642)
3. Literatur

1. Die Hauptrechtstexte

1.1. Der Rechtstext in 15 Kapiteln 

Der älteste Rechtstext Zhal-lce bco-lnga oder g.Yu-'brug sgrog gi zhal-lce soll nach einer Aussage des Fünften Dalai Lama von dem Phag-mo gru-pa-Herrscher Ta'i Situ Changchub Gyeltshen) (Byang chub rgyal mtshan (1302-1364) verfasst worden sein. Dieser Text besteht, wie der Titel sagt, aus 15 Kapiteln und einer längeren Einleitung, die in drei Abschnitte gegliedert ist: 1) die Entstehung des Rechts allgemein [nach buddhistischer Tradition], 2) die Vorzüge und Nachteile der Anwendung oder Nicht-Anwendung des Rechts und 3) die Geschichte der Entstehung des Rechts in Tibet. Die einzelnen Kapitel des Haupttextes behandeln inhaltlich folgende Punkte:

1) Regelung über Kompensationszahlungen im Falle von Mord und Totschlag
2) Regelung über Kompensationszahlungen im Falle von mutwilliger Verletzung
3) Regelung über die Bestrafung bei Diebstahl
4) Anwendung und Vorgehensweise von Gottesurteilen
5) Regelungen für Bestrafungen bei Unzucht und für Alimentezahlungen
6) Regelungen für Scheidungen
7) Regelungen im Falle von Rache und Streitigkeiten
8) Regelungen im Falle von offensichtlichen Beleidigungen und Drohungen
9) Regelungen für den Handel und die Festsetzung der Währungen
10) Regelungen im Falle von Schulden und Schuldnern
11) Eidesleistung im Falle von Besitzstreitigkeiten
12) Regelungen für das gegenseitige Ausleihen von Nutztieren, etc.
13) Anweisung, dass der Richter sich durchzusetzen hat
14) Regelung zur Wiedergutmachung im Falle von Diebstahl
15) Regelungen für die Gerichtsgebühren und die Zusatzgebühren an die Gerichtshelfer sowie für die Verköstigung der an dem Prozess beteiligten Personen während der Gerichtssitzungen

1.2. Der Rechtstext in 16 Kapiteln

In der ersten Hälfte des 17. Jh. liess der König von gTsang, Karma Tenkyon Wangpo (bsTan-skyong dbang-po), einen Rechtstext mit 16 Abschnitten (zhal-lce bcu-drug) erstellen. Der eigentliche Autor war vermutlich der Burgherr (rdzong-dpon) der Burg bSam-grub rtse in Shigatse (gZhis-ka rtse), mit Namen sPel-se-ba. Die ausführliche Einleitung dieses Textes beschreibt die Geschichte und Taten der Herrscher von gTsang. Die einzelnen Abschnitte des eigentlichen Rechtstextes haben durchweg die gleichen Bezeichnungen wie die Abschnitte des Rechtstextes in 15 Abschnitten, doch gibt es grosse inhaltliche Unterschiede. Die ersten beiden Abschnitte behandeln die Kriegsführung und im strengen Sinne keine eigentlichen Rechtsangelegenheiten. Das letzte Kapitel behandelt die Rechtssprechung und Rechtsgepflogenheiten in den Nachbarländern.

Die einzelnen Kapitel lauten:

1) Taktiken zur Kriegsführung
2) Taktiken zum Überstehen einer Belagerung
3) Weisungen fuer die Beamten
4) Weisungen für den Untersuchungsrichter
5) Strafen für schwere Verbrechen
6) Strafgebühren
7) Verhaftungen
8) Anmarschvergütungen
9) Kompensationszahlungen im Falle von Mord und Totschlag
10) Kompensationszahlungen im Falle von mutwilligen Verletzungen
11) Gottesurteile
12) Diebstahl
13) Familienstreitigkeiten und Scheidungen
14) Unzucht
15) Privatverträge
16) Kurzbeschreibung einiger Gesetze und Rechtspraktiken in den Nachbarländern und der Behandlung von ausländischen Boten oder Delegationen

Zu beachten ist, dass im Gegensatz zu der Version in 15 Kapiteln zwei Gesetze völlig neu interpretiert wurden. Das Gesetz des "tapferen Tigers" behandelt hier die Kriegsführung mit der notwendigen Planung und den notwendigen Vorbereitungen für die Schlachten. Das andere Gesetz des "furchtsamen Fuchses" erläutert die Art und Weise, wie man sich, wenn man in einer Burg belagert wird, zu verhalten hat und beschreibt die notwendigen Taktiken wie man die Belagerung übersteht und abwendet.

1.3. Der Rechtstext in 12 Kapiteln

Mit der Übernahme der Herrschergewalt durch den Fünften Dalai Lama im Jahre 1642 wurde von dem Regenten Sönam Rabten (bSod-nams rab-brtan) wohl vor der Reise des Fünften Dalai Lama nach China (1652-53) der Rechtstext in 12 Kapiteln auf der Grundlage des Rechtsbuches der gTsang-Herrscher geschaffen. Bis auf den Umstand, dass der Regent 4 Kapitel entfernt hat, gibt es keine grossen Unterschiede im Wortlaut zu dem früheren Text. Entfernt wurden die beiden Kapitel über die Kriegstaktiken, das Kapitel über die Amtsführung der Beamten und das Kapitel mit den Rechtsgepflogenheiten in den Nachbarländern, also die ersten drei und das letzte Kapitel. Die restlichen wurden in der Hauptsache so übernommen, jedoch mit neuer Nummerierung:

1) Weisungen für den Untersuchungsrichter
2) Strafen für schwere Verbrechen
3) Strafgebühren
4) Verhaftungen
5) Anmarschvergütungen
6) Kompensationszahlungen im Falle von Mord und Totschlag
7) Kompensationszahlungen im Falle von mutwilligen Verletzungen
8) Gottesurteile
9) Diebstahl
10) Familienstreitigkeiten und Scheidungen
11) Unzucht
12) Privatverträge

1.4. Der Rechtstext in 13 Kapiteln

Nach der Rückkehr des Fünften Dalai Lama von seiner Reise nach China wurde ungefähr um das Jahr 1653 der Version in 12 Kapiteln wieder eines der vorher entfernten Kapitel hinzugefügt und es entstand der Rechtstext in 13 Kapiteln (Zhal-lce bcu-gsum). Auch hier gibt es keine gravierenden Unterschiede zu der Version in 16 Kapiteln. Über die Gründe, warum das Kapitel mit den Anweisungen an die Staatsbeamten wieder hinzugefügt wurde, kann man nur spekulieren. Die Reihenfolge der einzelnen Kapitel ist:

1) Weisungen für die Beamten
2) Weisungen für den Untersuchungsrichter
3) Strafen für schwere Verbrechen
4) Strafgebühren
5) Verhaftungen
6) Anmarschvergütungen
7) Kompensationszahlungen im Falle von Mord und Totschlag
8) Kompensationszahlungen im Falle von mutwilligen Verletzungen
9) Gottesurteile
10) Diebstahl
11) Familienstreitigkeiten und Scheidungen
12) Unzucht
13) Privatverträge

Die verschiedenen Abschriften all dieser Rechtstexte können individuell Zusätze enthalten, wie beispielsweise eine Aufstellung der Gerichtsgebühren (khrims-'degs / sku-rgyal) oder Hinweise zu den aktuellen Massen und Gewichten, die in einer bestimmten Gegend des Landes in Gebrauch waren.

2. Ergänzende Rechtstexte

2.1. Die Antworten des Regenten Sanggye Gyatso an den König von Sikkim zu Fragen der Rechtspraxis in Tibet

Der sikkimesische Herrscher Tensung Namgyel (bsTan-srung-rnam rgyal) orientierte sich in seiner Rechtspraxis an die der nördlichen Nachbarn und dementsprechend existierten Versionen der tibetischen Rechtsbücher auch in Sikkim. Die Fragen des Herrschers beziehen sich meistens auf die genauen Summen der Kompensationszahlungen bei Mord und Totschlag oder mutwilligen Verletzungen. Der Regent hat seinen Antworten einen kurzen Abriss der Geschichte des Rechts in Tibet vorangestellt, bevor er dann auf die einzelnen Fragen ausführlich eingeht.

 2.2. She-bam chen-mo dper brjod

Aus der Zeit des oben erwähnten Regenten Sönam Rabten liegt uns auch eine Sammlung von Eidesformeln und Strafurteilen vor, die unter dem Titel She-bam chen-mo dper-brjod im Jahre 1987 veröffentlicht wurde. Nur der erste Teil dieses Textes enthält Rechtsmaterialien, der zweite Teil gibt eine Aufstellung der Unkosten für die Herstellung von kostbaren Kanjur und Tenjur Handschriften. Die dort zum ersten Mal und bisher einzigen veröffentlichten Eidesformeln enthalten in der Regel drei Kernsätze, die mit der Silbe re oder ri als Emphatikum abgeschlossen wurden. Aus diesem Grunde nannte man die Eidesformel im Tibetischen ri-tshig. Der jeweilige Wortlaut einer Eidesformel war von den Richtern oder höheren Beamten zu formulieren und wurde dann während des Eides demjenigen, der den Eid leistete, Satz für Satz vorgelesen und von ihm Satz für Satz nachgesprochen. Abschliessend musste er an einem glühenden Eisen lecken mit der Formel: "wenn meine Zunge nach dem Lecken an dem glühenden Eisen nicht blutet, dann habe ich die Wahrheit gesagt".

3. Literatur

Anonym: She-bam chen-mo’i dper-brjod. Bod kyi dus rabs rims byung gi
khrims yig phyogs bsdus dvangs byed ke ta ka, S. 117-190. Lhasa 1987
Dung-dkar Blo-bzang 'phrin-las: Dung-dkar Tshig-mdzod chen-mo. Beijing 2002
Rebecca Redwood French: The Golden Yoke - The Legal Cosmology of Buddhist Tibet. Ithaca, NY/London 1995
Leonard van der Kuijp: The Yoke is on the Reader - A Recent Attempt at Studying Tibetan Jurisprudence. Central Asiatic Journal 43 (1991), 266-92.
Richard O. Meisezahl: Die Ordalien im tibetischen Recht. Zentralasitische Studien 20 (1987), S. 228-232
Dieter Schuh: Recht und Gesetz in Tibet. Tibetan and Buddhist Studies Commemorating the 200th Anniversary of the Birth of Alexander Csoma de Körös, S. 291-311. Budapest 1984
J. Claude White: Sikkim and Bhutan. (Reprint) Delhi 1992

Autor: Christoph Cüppers, 2011