Tibet-Encyclopaedia

 

Abbildung 1: Tibetische Regierungsverordnungen zur Steuererhebung

Tibetische Regierungsverordnungen

Tibetische Regierungsverordnungen (rtsa-tshig) gehören zu den Erlassen tibetischer Herrscher, die wie die Herrscherurkunden von der Kanzlei des jeweiligen Herrschers ausgefertigt wurden. In der Regel enthielten sie Anweisungen der Regierung, die für das ganze Land oder bestimmte Landesteile verbindlich waren oder Dienstanweisungen für die Amtsträger der Regierung. Zur ersten Gruppe gehörten die Erlasse, die zu Zeiten einer politischen Neuordnung ausgefertigt wurden, zur zweiten beispielsweise die Anweisungen an die Distrikt- und Landbeauftragten mit den Regelungen der Steuereinnahmen. Eine besondere Gruppe bilden die sogenannten Jagdrestriktionen (ri-klung rtsa-tshig), die jährlich erlassen wurden.

Inhaltsverzeichnis

1. Begriffsklärung
2. Geschichtliches
3. Neuordnung der Regierung
4. Anweisungen an die Amtsträger
5. Jagdordnung
6. Literatur

1. Begriffsklärung

Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts ist der Terminus "Grundordnung" (rtsa-tshig) in der tibetischen Verwaltungsliteratur belegt, dessen Vorläufer bca'-tshig oder ähnlich sich in den Werken des Herrschers von Gyantse (rGyal-rtse), Rabten Künsang Phag (Rab-brtan kun-bzang 'phags, 1389-1442) nachweisen lässt. Vermutlich handelt es sich hier um die Verkürzung der Formulierung khrims su bca'-ba'i tshig "Worte, mit denen diszipliniert wird". Da hier eine Ähnlichkeit in der Formulierung mit dem Begriff bca'-yig "Klosterdisziplinsordnung" (dge-'dun khrims su bca'-ba'i yi-ge) vorliegt, hat sich im Laufe der Zeit der Terminus rtsa-tshig für den politischen und bca'-yig für den religiösen Bereich ergeben. Beide Urkundenarten zeigen gelegentlich wörtliche Übereinstimmung, besonders wenn Regeln für ein gutes Benehmen zur Sprache kommen.

Neuzeitliche tibetische Autoren verwenden häufig den Begriff rtsa-'dzin an Stelle von rtsa-tshig. In den Originalurkunden der dGa'-ldan pho-brang-Regierung wird jedoch der Begriff rtsa-tshig für diese Urkundengattung verwendet, der hingegen von der Verwendung des Wortes im Titel religiöser Texte streng zu unterscheiden ist.[1] Der Begriff rtsa-'dzin erscheint auch in tibetischen Urkunden, jedoch nicht immer in der Bedeutung einer Urkundengattung.

2. Geschichtliches 

Die erste Regierungsverordnung der im Jahre 1642 gegründeten dGa'-ldan pho-brang-Regierung stammt von dem Mongolenherrscher Gushri Khan und dem damaligen Regenten Sönam Rabten (bSod-nams rab-brtan). Dieser Erlass war an die gesamte Bevölkerung Tibets und an alle Amtsträger gerichtet zu dem Zweck, Frieden und Ordnung nach den politischen Unruhen der Jahre 1641-1642 wieder herzustellen. Jede Art von Vergehen wie Raub, Plünderung und Betrug waren strengstens untersagt. Selbstjustiz im Falle von Raub und Mord wurde genauso unter Strafe gestellt wie Siegel- und Urkundenfälschung. Ohne eine ordnungsgemäß durchgeführte Gerichtsverhandlung durfte niemand bestraft werden. Erwähnenswert ist auch der Hinweis, dass Besitztümer durch glaubwürdige Urkunden nachgewiesen werden müssen.

Die Publicatio dieser Verordnung lautet :

"Schreiben, das von den unter unserer Herrschaft stehenden Kloster- und Volksgemeinschaften, Distriktbeauftragten, Verwaltungsbeamten, Steuereinnehmern und Ausführungsanweisungen erteilenden Führungskräften, Kreditverleihern, Geistlichen und Laien und so weiter, von allen Vornehmen und Gemeinen zur Kenntnis zu nehmen ist."

Im Jahre 1681 veröffentlichte der Regent Sanggye Gyatsho (Sangs-rgyas rgya-mtsho, 1653-1705) seine Dienstanweisungen an die höheren Amtsränge. Einige dieser dort enthaltenen Kapitel basieren auf älteren Verordnungen, jedoch ist dieser Text in seiner Gesamtheit nicht als rtsa-tshig anzusehen, sondern Sanggye Gyatsho verstand dies als Handbuch der Regierungskunde. Hierin werden die charakterlichen Voraussetzungen und die notwendige Geisteshaltung der Beamten für bestimmte Posten beschrieben, den Hauptteil nehmen jedoch die ausführlichen Dienstanweisungen für die einzelnen Amtsränge ein.

Nach den politischen Unruhen und dem Tod von Gyurme Namgyel (´Gyur-med rnam-rgyal) wurde dieses Handbuch im Jahre 1751 durch eine neue Regierungsverordnung mit 13 Abschnitten ersetzt. Diese Verordnung wiederum wurde im Jahre 1793 nach den Gorkha-Kriegen[2] durch eine Verordnung mit 29 Abschnitten abgelöst.

Erst zur Zeit des 13. Dalai Lama wurde wieder auf das Handbuch des Regenten Sanggye Gyatsho zurückgegriffen und zur Amtszeit des Regenten Tagtrag Pandita (sTag-brag paṇḍi-ta Ngag-dbang gsung-rab mthu-stobs) (i.A. 1941-1950) als Blockdruck neu herausgegeben.

Die Regierungsverordnungen wurden entweder von der Kanzlei des Herrschers oder des Regenten oder von der Kanzlei des Ministerrates ausgestellt, also von den höchsten Regierungsstellen. 

   

Abbildung 2: Eine öffentlich ausgestellte Regierungsverordnung

 

Abbildung 3: Der Beamte Shokhang in Amtskleidung mit der dazugehörigen Kopfbedeckung Bogdo (bog-do/to/tho) und dem Ohrring an seinem linken Ohr

3. Neuordnung der Regierung

Die oben erwähnten Regierungsverordnungen von 1751 und 1793 wurden beide als grundlegende Neuordnung verstanden (lugs-srol gsar-'dzugs). Mit diesen Neuordnungen versuchte man, eingerissene Misstände, schlechte Verwaltungspraktiken und sonstige Ungerechtigkeiten zu korrigieren.

Eine diese Neuerung sah vor, dass auch gemeine Leute, also nicht nur Adlige, die höheren Positionen des Militärs besetzen konnten, wenn die Kandidaten sich durch Tapferkeit und Eignung ausgezeichnet hatten. In der Regel waren die höheren Amtsränge der Laienbeamten ausschliesslich dem Adel vorbehalten.

In einer Verordnung des Jahres 1792 wurde zum erstenmal das System geregelt, nach welchem untere Amtsränge höhergestellte Amtsränge in den Amtsgeschäften vertreten konnten. Beispielsweise konnten die nicht geistlichen Minister entweder von einem Militärkommander, einem höheren Beamten der Finanzverwaltung oder einem Regierungsschatzmeister vertreten werden. Voraussetzung hierfür war die Eignung des betreffenden Beamten und das Einholen einer Erlaubnis des Dalai Lama und des chinesischen Vertreters (Amban) in Lhasa. Im gleichen Rahmen war es möglich, dass höhere Finanzbeamte und Schatzmeister beispielsweise von Regierungssekretären vertreten werden konnten. In der Präambel dieses Paragraphen heisst es, dass Beamte sich bisher nach Gutdünken haben vertreten lassen, was zu Problemen geführt hat.

4. Anweisungen an die Amtsträger

Diese Verordnungen dienten dazu, den Staatsbeamten und Amtsrängen Dienstanweisungen zu geben. Mit ihnen wurden Verwaltungsroutinen eingerichtet und geregelt. Sie geben uns Einblicke in die Verwaltungsstrukturen und den Verwaltungsapparat mit all seinen Verzweigungen. Ferner erlauben sie Rückschlüsse auf die wirtschaftlichen Verhältnisse zu bestimmten Zeiten oder an bestimmten Orten. Anweisungen an die Steuereinnehmer waren wohl die häufigsten, denn obwohl die Steuern nach der Grösse des Feldes zu bemessen waren, konnte aber die Ernte durch Überschwemmungen, Insektenfrass oder Hagelschlag vernichtet werden. Aus diesem Grunde wurde die Praxis der Steuereinnahme für bestimmte Landesteile jährlich modifiziert. Verordnungen an die Distrikt- und Landgutbeauftragten enthielten Anweisungen über die Verwendung von Steuereinnahmen, besondere Angaben und verpflichtende Regeln zur jährlichen Abrechnung, Restriktionen über den Missbrauch von Transportdienstleistungen und Angaben über die Gehälter und Zuwendungen der Angestellten und Diener solcher Behörden.

Es kommen in diesen Verordnungen auch die Dienstzeiten für die Beamten zu Sprache, ebenso die Kleiderordnungen, ihre medizinische Versorgung, ihr Heimaturlaub, die Pflicht, ihre Untergebenen zu disziplinieren, und Anweisungen für höfliches und angemessenes Benehmen.

Für die Amtsränge, die am Hofe des Dalai Lama tätig waren, enthielten die Verordnungen die Regeln für die Audienzen des Dalai Lama, Anweisungen zu den Vorsprechzeiten der Amtsränge, für den Umgang mit Gästen wie den geistlichen und weltlichen Würdenträgern, sowie deren Verköstigung während einer Audienz und viele andere Punkte, die zu beachten waren, damit das Prestige der Regierung nicht Schaden erlitt.

In diesem Sinne betrafen sie das tibetische Beamtenrecht mit den Beamten als ausführende Organe des politischen Willens des Herrschers.

5. Jagdordnung

Die Verordnungen mit den Jagdrestriktionen (ri-rgya klung-rgya sdom-pa "Versiegeln der Berge und Versiegeln der Täler) wurden jährlich erlassen. Für bestimmte Jahreszeiten war das Jagen von Wild und das Fischen untersagt mit der Ausnahme des Jagens von Wölfen, da sie den Herden grossen Schaden zufügen konnten. Das Jagdverbot galt auch für die unmittelbare Nachbarschaft von Klöstern. Auf seiner Reise nach China im Jahre 1652/53 hat der 5. Dalai Lama das Jagen im Umkreis der jeweiligen Zeltlager und im Bereich des Karawanenweges den mitreisenden Tibetern und Mongolen ausdrücklich verboten.

[1] Siehe beispielsweise die Titel: "phyag rgya chen po lhan cig skyes sbyor gyi khrid kyi spyi sdom rtsa tshig" oder "rtsa thig rlung sbyang gi rtsa tshig mchog gi grub chen"
[2] Siehe hierzu Tibetische Münzen: 2. Der Umlauf nepalesischer Münzen in Tibet und eigene Prägungen 

6. Literatur

Christoph Cüppers: Eine Merkliste mit den Aufgaben der Distriktbeauftragten (rdzong dpon) aus dem 17. Jahrhundert. In H. Eimer, M. Hahn, M. Schetelich & P. Wyzlic (eds.), Studia Tibetica et Mongolica: Festschrift für Manfred Taube (= Indica et Tibetica, 34). Swisttal-Odendorf: Indica et Tibetica, 1999, pp. 51-70
Christoph Cüppers: A Ban on Animal Slaughter at Buddhist Shrines in Nepal. In S. Karmay and P. Sagant (eds.), Les Habitants du toit du Monde. Études recueillies en hommage à Alexander W. Macdonald (= Recherches sur la Haute-Asie, 12). Nanterre: Société d’Ethnologie, 1997, pp. 677-687
Christoph Cüppers: Die Reise- und Zeltlagerordnung des Fünften Dalai Lama. In B. Kellner, H. Krasser, H. Lasic, W.T. Much and H. Tauscher (eds.), Pramâṇakîrti: Papers Dedicated to Ernst Steinkellner on the Occasion of his 70th Birthday, Part 1 (= Wiener Studien zur Tibetologie und Buddhismuskunde, 70.1). Wien: Arbeitskreis für Tibetische und Buddhistische Studien der Universität Wien, 2007, pp. 37-51.
Christoph Cüppers, Die Verordnungen für das Abrechnungswesen tibetischer Amtsstellen der dGa' ldan pho brang-Regierung. Faksimile-Edition und Transliteration der Hs. Cod. Tibet 24 der Bayerischen Staatsbibliothek (= Monumenta Tibetica Historica, III). Halle: International Instiute for Tibetan and Buddhist Studies GmbH (in Vorbereitung)
Sabine Dabringhaus: Das Qing-Imperium als Vision und Wirklichkeit. Tibet in Laufbahn und Schriften des Song Yun (1752–1835). (Münchener Ostasiatische Studien; 69). Stuttgart 1994.
Toni Huber: Territorial Control by "Sealing" (rgya sdom-pa) - A Religio-Political Practice in Tibet. ZAS 33 (2004), S. 127-152
Luciano Petech: China and Tibet in the Early XVIIIth Century, Leiden 1972.  [S. 275-280 : rtsa tshig in 13 Abschnitten aus dem Jahre 1751]
Dieter Schuh: Grundlagen tibetischer Siegelkunde, Monumenta Tibetica Historica: Abt. III, Diplomata et Epistolae, Band 5, St. Augustin, 1981
Dieter Schuh: Das Archiv des Klosters bKra-shis bsam-gtan gling von sKyid-grong. VGH, Bonn 1988

Autor: Christoph Cüppers, 2011. Abbildungsnachweise: Abbildung 1: BSB-Hss Cod.tibet. 24, Steuergesetze (rdzong gzhis dang sprod dpang dkar yong sogs kyi[s] [m]tshon pa'i rtsis su gtong 'jog skor gyi rtsa tshig) http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0001/bsb00019820/images/index.html?seite=3, Abbildung 2: http://tibet.prm.ox.ac.uk/photo_1998.285.110.html , Abbildung 3:  http://tibet.prm.ox.ac.uk/photo_BMR.86.1.27.3.html