Tibet-Encyclopaedia

 

   

 Der Komet Encke aufgenommen mit dem Spitzer Space Telescope. Quelle: Wikipedia http://en.wikipedia.org/wiki/File:Ssc2005-04a.jpg  

 

 Abriss des Schweifs des Kometen Encke. Dieses Phänomen wurde schon im 12. Jahrhundert in Tibet beobachtet und beschrieben. Quelle der Abbildung: Wikipedia http://en.wikipedia.org/wiki/File:Encke_tail_rip_off.ogg

Komet Encke (du-ba mjug-rings)

Mehr als siebenhundert Jahre vor der ersten Sichtung des Kometen Encke durch den französischen Astronom Pierre Méchain im Jahre 1786 und den 1819 vorgelegten Berechnungen dieses Kometen durch Johann Franz Encke war der Komet Encke unter der Bezeichnung Du-ba mjug-rings „Einer, der einen langen Rauchschweif hat“ in Tibet bekannt. Mit der Übersetzung des indischen Kālacakratantra wurden den Tibetern nicht nur Beschreibungen der Bewegung dieses Kometen aus Indien überliefert, sondern auch Zahlangaben zu seiner Bewegung vermittelt, die es ihnen später möglich machte, die Zeiträume seiner Sichtbarkeit zu berechnen. Beginnend mit dem Jahre 1318 sind uns zahlreiche autochthone, tibetische Werke über Astronomie überliefert, die sich teilweise sehr ausführlich mit astronomischen Berechnungen zu diesem Komet beschäftigen. Eine detaillierte Erforschung dieser zum Teil sehr alten tibetischen Darlegungen steht noch aus.

Am 17. Januar 1786 sichtete der französische Astronom Pierre Méchain einen Kometen, der bis dahin in der westlichen Welt völlig unbekannt war. Weitere Beobachtungen dieser Himmelserscheinung fanden in den Jahren 1795 (Caroline Herschel), 1805 und 1818 (beide von Jean-Louis Pons) statt. 1819 veröffentlichte Johann Franz Encke in der Zeitschrift „Correspondance Astronomique” einen Artikel, in dem er alle diese Beobachtungen einem einzigen Kometen zuordnete und dessen Wiedererscheinen für das Jahr 1822 prognostizierte. Aufgrund dieser Leistung wurde dieser Komet nach ihm benannt und ist bis heute als „Enckescher Komet“ („Comet Encke“ bzw. „Encke´s Comet“) bekannt.

In seiner 1966 in München vorgelegten Habilitationsschrift (S. 144f) erläuterte Winfried Petri, dass sich im Kālacakratantra, das in der vorliegenden Form nach 1027 entstanden ist und in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts in das Tibetische übersetzt wurde, Berechnungen zur Sichtbarkeit eines Himmelskörpers finden, der im Tibetischen mit du-ba mjug-rings „Einer, der einen langen Rauchschweif hat“ bezeichnet wird. Dieser Komet wird nach dem Kālacakratantra alle drei Jahre für 1,5 Monate sichtbar. Petri kommt das Verdienst zu, als erster zweifelsfrei festgestellt zu haben, dass es sich bei diesem Kometen der indo-tibetischen Astronomie um den Enckeschen Kometen handelt, der somit mehr als 700 Jahre vor seiner Entdeckung in der westlichen Welt in Tibet bekannt wurde. Die Berechnungen seiner Sichtbarkeit haben die tibetische Astronomie seit dem 11. Jahrhundert bis in die Neuzeit beschäftigt, wobei aus der Beobachtung gewonnenes Erfahrungswissen (myong-rtsis) immer wieder in die Berechnungen einfloss.

Die zweitälteste uns aus Tibet bisher bekannt gewordene Abhandlung über Astronomie, die Berechnungen zur Sichtbarkeit des Kometen Encke enthalten, ist das Kālacakrāvatāra des indischen Lehrmeisters Abhayākaragupta (1084–1130). Dieses Werk wurde im ersten Viertel des 12. Jahrhunderts geschrieben und zur gleichen Zeit unter Mitwirkung des Autors von dem Tibeter Nyin-phug-pa Chö kyi Dragpa (Chos kyi grags pa, 1094-1186) ins Tibetische übersetzt. Nach Abhayākaragupta pendelt dieser du-ba mjug-rings genannte Komet vor und hinter der Sonnenscheibe mit einer Geschwindigkeit von 2,5 chu-srang pro Tag gegenüber der Sonne hin und her und wird jeweils nach drei Jahren nur für 1,5 synodische Monate sichtbar. In dem Zeitraum von drei Jahren, in dem der Komet sich vor oder hinter der Sonnenscheibe befindet, ist Encke für den Beobachter auf der Erde nicht wahrnehmbar. Nach Abhayākaragupta wirft Encke in den 1,5 Monaten seiner Sichtbarkeit für einen Monat seinen Schweif (du-ba) ab und erscheint in dieser Zeit dem Beobachter wie ein Fixstern (skar-ma). Die restliche Zeit von 15 Tagen ist er jeweils mit einem langen Schweif (mjug-ma ring-po) sichtbar.

Tibetischer Blockdruck mit dem 1. Teil des Abschnitts im Kālacakrāvatāra, der die Sichtbarkeit des Kometen Encke behandelt

Tibetischer Blockdruck mit dem 2. Teil des Abschnitts im Kālacakrāvatāra, der die Sichtbarkeit des Kometen Encke behandelt

Nach den Erläuterungen des tibetischen Astronomen Khyenrab Norbu (mKhyen-rab nor-bu, Rigs-ldan snying gi thig-le, Dharmsala-Ausgabe, S. 64) waren den tibetischen Astronomen vier Kometen bekannt, die alle als Emanationen (sprul-pa) des Pseudoplaneten sGra-gcan angesehen wurden, der für die Sonnen und Mondfinsternisse verantwortlich zeichnete. Ihr Erscheinen am Himmel wurde als unheilvolles Vorzeichen (mi-dge´i ltas) angesehen. Khyenrab Norbu führt für diese Kometen folgende Bezeichnungen und Himmelsrichtungen auf: (Osten) Du-ba mjug-rings, d. i. der Komet Encke; (Süden) sTag-mgo me-´bar „Tigerkopf mit einem Feuerkranz“; (Westen) g.Yag-mgo rlung-´tshub „Yakkopf mit heftigem Sturm“; (Norden) Chu-tig sngon-po „Blauer Wassertropfen“. Nach mKhyen-rab nor-bu waren der tibetischen Astronomie nur im Falle des Kometen Encke Berechnungsmethoden bekannt, die eine Vorausberechnung seiner Sichtbarkeit ermöglichten.

      

Der karma Rangjung Dorje veröffentlichte 1318 eine Abhandlung mit Berechnungen zur Sichtbarkeit des Kometen Encke

 

Phugpa Lhündrub Gyatsho veröffentlichte 1447 ein Werk, in dem er die zu seiner Zeit in Tibet bekannten Methoden zur Berechnung der Sichtbarkeit des Kometen Encke ausführlich beschrieb

 

Der Regent Sanggye Gyatsho legte 1685 eine neue Berechnung der Sichtbarkeit des Kometen Encke vor

Die ältesten uns überlieferten Berechnungen eines tibetischen Astronomen zur Sichtbarkeit des Kometen Encke finden sich in der 1318 von dem karma Rangjung Dorje (Rang-byung rdo-rje) verfassten Schrift rTsis kyi bstan-bcos kun las btus-pa´i rtog-pa. Während diese Darlegungen noch sehr kurz gefasst sind, beschäftigt sich über 100 Jahre später der Astronom Phugpa Lhündrub Gyatsho (Phug-pa lHun-grub rgya-mtsho) in seinem 1447 fertiggestellten, in Prosa verfassten Padma dkar-po'i zhal-lung ausführlich diesem Thema. Phugpa Lhündrub Gyatshos  ausführliche Erörterungen abweichender Berechnungsmethoden von Seiten anderer tibetischer Astronomen zeigen, dass die Berechnung der Sichtbarkeit des Kometen Encke in seiner Zeit vielfältig diskutiert wurde. In den folgenden Jahrhunderten fehlten in keinem der wichtigen tibetischen astronomischen Lehrbüchern Berechnungen zur Sichtbarkeit des Kometen Encke. Dies gilt insbesondere für das 1685 fertiggestellte, umfangreiche Werk Vaiḍūrya dkar-po des Regenten sde-srid  Sangs-rgyas rgya-mtsho. Detaillierte Studien zu diesen Berechnungsmethoden, die insbesondere eine Edition der relevanten Texte enthalten sollten, liegen bis heute nicht vor.

Literatur

Kālacakratantra: Tibetischer Titel: mChog gi dang-po sangs-rgyas las phyung-ba rgyud kyi rgyal-po dus kyi ´khor-lo. The Tibetan Tripitaka, Peking Edition, Tokyo-Kyoto 1955-1961, Bd. 1, Nr. 4
Kālacakrāvatāra: Tibetischer Titel: Dus kyi ´khor-lo la ´jug-pa. The Tibetan Tripitaka, Peking Edition, Tokyo-Kyoto 1955-1961, Bd. 47, Nr. 2098
mKhyen-rab nor-bu: bsTan-bcos vaiḍūrya dkar-po dang nyin-byed snang-ba´i dgongs-don gsal-bar ston-pa rtsis-gzhi´i man-ngag rigs-ldan snying gi thig-le. Nachdruck Dharmsala 1968
Winfried Petri: Indo-tibetische Astronomie. Habilitationsschrift zur Erlangung der venia legendi für das Fach Geschichte der Naturwissenschaften an der Hohen Naturwissenschaftlichen Fakultät der Ludwig Maximilians Universität zu München. München 1966
Phug-pa Lhun-grub rgya-mtsho: Legs par bshad pa padma dkar-po'i zhal gyi lung. Beijing 2002
karma Rang-byung rdo-rje: rTsis kyi bstan-bcos kun las btus-pa´i rtog-pa. Blockdruck, 27 Blatt
Dieter Schuh: Untersuchungen zur Geschichte der Tibetischen Kalenderrechnung. Wiesbaden 1973
Dieter Schuh: Grundzüge der Entwicklung der Tibetischen Kalenderrechnung. Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Supplement II. XVIII. Deutscher Orientalistentag vom 1. bis 5. Oktober 1972 in Lübeck. Vorträge, S. 554-566
Vaiḍūrya dkar-po: Phug-lugs rtsis kyi legs-bshad mkhas-pa'i mgul-rgyan vaidur dkar-po'i do-shal dpyod-ldan snying-nor (Blockdruck)

Autor: Dieter Schuh, 2011