Tibet-Encyclopaedia

 

Sher Khan (Herrscher von Baltistan bzw. Klein-Tibet)

Sher Khan alias Sher Shah regierte in Baltistan in den sechziger und siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts. Von seinem Bruder Murad Khan wurde er zunächst als Herrscher von Kartaksho eingesetzt. Er unterstützte Murad Khan auf dessen Kriegszügen gegen die Nachbarländer, insbesondere in Baltistan, und schreckte wie sein Bruder Murad Khan nicht vor Eidbruch und Mord zurück. Nach dem Tod seines Bruders riss er die Macht in Skardu an sich, hielt dessen Sohn und rechtmäßigen Nachfolger Muhammad Rafi Khan zeitweise in Gefangenschaft und entfachte einen der fürchterlichsten Kriege in der Geschichte Baltistans, an dessen Ende er alle Machtansprüche verlor und offenbar nach Purik ins Exil ziehen musste.

Inhaltsverzeichnis:

1. Quellenlage
2. Karriere unter Murad Khan und Machtübernahme nach dessen Tod (nach 1636 bis 1667)
3. Erfolgloser Feldzug gegen Shigar (nach 1667 und vor 1674)
4. Gegenangriff von Seiten Imam Quli Khans: Der Verlust von Khaplu (nach 1667 und vor 1674)
5. Aufgabe der Herrschaft in Skardu und Rückzug nach Kartaksho (Nach 1667 und vor 1674)
6. Allianz mit Ladakh und Reisen nach Kaschmir. Bündnis von Sher Khan mit seinem Neffen Yakub von Khaplu (nach 1673)
7. Erneute Besetzung von Skardu und Inhaftierung des rechtmäßigen Herrschers Muhammad Rafi Khan (nach 1674)
8. Kämpfe um Kharku, Skardu, Kiris und Kuru
9. Intermezzo in Purik: Der Feldzug des Gouverneurs von Kaschmir Ibrahim Khan zur Befreiung von Purik (ca. 1678/79)
10. Innere Auseinandersetzungen zwischen Yakub und Hatam Khan in Khaplu (nach 1678/79)
11. Sher Khans endgültige Niederlage und sein Gang ins Exil
12. Literatur

1. Quellenlage

In den älteren Genealogien der Herrscher von Baltistan, die Cunningham, Biddulph und Francke veröffentlicht haben, taucht Sher Khan unter dem Namen Sher Shah nur als Herrscher von Kartaksho bzw. Kharmang auf. Daneben ist als einzige relevante Quelle nur die Verschronik Shigar Nāma zu nennen, welche aber sehr ausführlich über Sher Khans kriegerische Aktivitäten berichtet. Insofern das Shigar Nāma insbesondere unter Parteinahme für seinen Hauptgegner Imam Quli Khan von Shigar geschrieben wurde, erscheint er in dieser Quelle im Vergleich zu dem Helden der Chronik Imam Quli Khan als finstere, verschlagene und aggressive Herrscherpersönlichkeit.

2. Karriere unter Murad Khan und Machtübernahme nach dessen Tod (nach 1636 bis 1667)

Sher Khan war wie Murad Khan ein Enkel des berühmten Ali Sher Khan und ein Bruder von Murad Khan, der in Baltistan als Statthalter und Nachfolger seines Onkels Adam Khan ab 1650/51 bis in die sechziger Jahre des 17. Jahrhunderts regierte. Als Murad Khan von seinem Zufluchtsort Rondu nach 1636 an den Hof des Kaisers Shah Jahan (1627-1658) nach Indien reiste, blieben seine Brüder Ali Shah und Sher Khan in Rondu zurück, wobei Sher Khan die Leitung der Regierungsgeschäfte in Rondu übernahm. Nachdem Murad Khan nach langem Aufenthalt in Kaschmir 1650/51 nach Skardu zurückgekehrt, zum Statthalter von Adam Khan in Skardu ernannt worden war, eroberte er als erstes Kartaksho. Die Verwaltung dieses kleinen Königreiches übertrug er Sher Khan, der ihn in den folgenden Jahren auf allen seinen militärischen Expeditionen begleitete. Nach dem Shigar Nāma war Sher Khan auch nach der Eroberung von Khaplu an der Ermordung von Rahim Khan, des abgesetzten Herrschers von Khaplu, beteiligt.

Abbildung 1: Orientierungshilfe für Baltistan: Die Regionen Skardu, Shigar, Kiris, Khaplu und Kartaksho (als Kharmang verzeichnet). Die Karte wurde vom Aga Khan Cultural Service-Pakistan erstellt

Bevor Murad Khan starb, hatte er testamentarisch verfügt, dass seine minderjährigen Söhne Muhammad Rafi, Radi Khan und Daulat bei seinem Vertrauten Ruhan Sadaf aufwachsen und sein Bruder Ali Shah die Herrschaft über Skardu ausüben sollte, solange Murad Khans ältester Sohn Muhammad Rafi minderjährig war. Ali Shah fühlte sich aber dieser Aufgabe nicht gewachsen. Er forderte deshalb seinen jüngeren Bruder Sher Khan, der in Kartaksho regierte, auf, die Herrschaft zu übernehmen. Dabei wies Ali Shah daraufhin, dass Sher Khan Muhammad Rafi dadurch ruhigstellen könnte, dass dieser die Tochter Sher Khans heiratet. Begleitet von seinen Truppen zog Sher Khan unter der Vorgabe, als trauernder Bruder einen Besuch abzustatten, nach Skardu und übernahm dort die Macht.

3. Erfolgloser Feldzug gegen Shigar (nach 1667 und vor 1674)

Nach dieser Machtübernahme begann Sher Khan mit den Vorbereitungen für die Eroberung von Shigar. Er zog Truppen aus allen ihm unterstellten Regionen zusammen, um Shigar zu erobern. Die Angreifer setzten über den Indus und bezogen in Kothang, einer großen Ebene vor Shigar, (auf Abbildung 2 als Kothung verzeichnet) Stellung. Danach kam es zur ersten großen Schlacht.

Abbildung 2: Orientierungshilfe für Skardu, Shigar, Kiris und Umgebung 

Um das Vorrücken von Hilfstruppen aus Khaplu, das von Babur, einem Neffen von Sher Khan regiert wurde, zu verhindern, hatte Imam Quli Khan vor dieser ersten Schlacht Amir Khan nach Kiris geschickt. Kaum war Amir Khan in seiner Heimat angekommen, sperrte er die Verbindungswege nach Westen. Als sich Babur mit seinen Truppen Kiris näherte, stieß er auf die Krieger von Amir Khan. Es kam zum Kampf, in dem Babur unterlag. Einhundertzwanzig seiner Krieger wurden gefangen genommen. Babur bat Sher Khan um die Entsendung von Hilfstruppen, was dieser auch tat. In diesem Augenblick erreichte Amir Khan ein Bote aus Shigar, der über die bedrohliche Situation dort berichtete. Amir Khan brach sofort mit seinen Kriegern nach Shigar auf, um Imam Quli Khan zu unterstützen. Als er sah, dass kurz vor Shigar auf der Ebene von Kothang die Armee Sher Khans lagerte, kämpften sich er und seine Begleiter den Weg nach Shigar frei und erreichten Imam Quli Khan.

Sher Khan ließ in Kothang alle Bäume fällen und rückte nach drei Tagen mit Truppen in das Dorf Bünpieh (Biapong der Karte von Abbildung 2) ein. Hier erlitt er bei einer nächtlichen Attacke der Truppen von Shigar erhebliche Verluste. An die einhundert seiner Krieger wurden getötet und die Eindringlinge zum Rückzug gezwungen. Um vor weiteren nächtlichen Angriffen geschützt zu sein, errichteten die Truppen Sher Khans eine Festung. Von der Festung aus rückten sie erneut gegen Bünpieh vor und erlitten erneut eine Niederlage. Anschließend verschanzten sie sich in ihrer neu erbauten Burg. Die Krieger aus Shigar entzündeten an der Burgmauer große Feuer und räucherten damit die Burginsassen aus, die fluchtartig die Festung verlassen mussten. Auf dieser Flucht wurden erneut 120 Krieger der Truppe Sher Khans erschlagen. Zusätzlich geriet Sher Khans Sohn Muncupa in Gefangenschaft. Es folgte noch eine Entscheidungsschlacht, in der Sher Khans restliche Krieger erneut unterlagen. Sher Khan verließ mit den Toten das Schlachtfeld und kehrte mit ihnen in die Heimat zurück. Hier plante er einen erneuten Feldzug und ließ ein zweites Mal in allen Landesteilen Truppen ausheben. Er kündigte an, dass jeder, der im Kampf Fahnenflucht beginge, sofort geköpft würde, und schickte seine Truppen erneut nach Bünpieh. Die Angriffspläne wurden aber an Imam Quli Khan verraten, so dass dieser geeignete Abwehrmaßnahmen treffen konnte. Es kam erneut zum Kampf, den offenbar Sher Khan erneut verlor.

4. Gegenangriff von Seiten Imam Quli Khans: Der Verlust von Khaplu (nach 1667 und vor 1674)

Nach dem gescheiterten Versuch Sher Khans, Shigar zu erobern, erfolgte die militärisch notwendige Gegenreaktion. Die Truppen aus Shigar und ihre Verbündeten zogen los, um Khaplu, das von Babur regiert wurde, zu erobern. Zuvor war Imam Quli Khan noch ein wichtiger Schachzug gelungen. Muhammad Rafi, der erbberechtigte Sohn von Murad Khan und somit rechtmäßige Herrscher von Skardu, hatte sich in seine Obhut begeben und sich ihm somit angeschlossen.

Geführt von Amir Khan setzten zwei Armeen über den Fluß Shayok und erreichten die in der Nähe von Khaplu gelegene Festung Sarfah Khar. Babur wurde dadurch in Angst und Schrecken versetzt. Eine dieser beiden Armeen war von Muhammad Rafi entsandt worden und wurde von Haidar Kahn geführt. 

Hierzu ist anzumerken, dass Haidar Khan einer der Söhne Rahim Khans, des ehemaligen Herrschers von Khaplu, war, der von Murad Khan und Sher Khan ermordet worden war. Haidar Khan war somit ein Cousin von Babur, ihm aber angesichts der Vorgeschichte keineswegs freundlich gesinnt.

Die andere Armee unter Führung von Amir Khan stammte aus Shigar und war somit von Imam Quli Khan entsandt worden. Die Festung Kharku war zuvor erobert worden und man schickte sich nun an, die Festung Thortsi Khar, in die Babur sich zurückgezogen hatte, einzunehmen. Da diese aber im Ruf stand, uneinnehmbar zu sein, fasste  Babur den Plan, Vorräte und Getreide anzuhäufen, so dass man solange ausharren konnte, bis Sher Khan Hilfe schickte. Die zur Sammlung der Getreidevorräte entsandten Leute kehrten aber mit leeren Händen zurück und die Vorräte fielen in die Hände der anrückenden Gegner. Es kam zur ersten Schlacht, in der keine der beiden Parteien obsiegte.

Babur blieb nun nichts anders übrig, als in der (belagerten) Festung Thortsi Khar von Khaplu auszuharren und darauf zu warten, dass Sher Khan Hilfstruppen schickte. Sher Khan entsandte Yakub mit einhundert Kriegern, um Babur zu unterstützen. Hierzu ist anzumerken, dass Yakub und Babur Brüder waren, die von ihrem Onkel Murad Khan als Herrscher von Khaplu eingesetzt worden waren. Danach hatte Babur seinen eigenen Bruder aus dem Lande verjagt. Trotzdem kam Yakub, um seinem Bruder zu helfen. Zusätzlich sandte Sher Khan fünfzig Leute mit Getreide, um die Versorgung der belagerten Truppen sicherzustellen. Von dem entsandten Getreide kam nur die Hälfte an. Die ebenfalls eingetroffenen einhundert Soldaten verschärften die bestehende Hungersnot in der belagerten Festung. Angesichts dieser verzweifelten Lage beschlossen die beiden Brüder, auf die Seite von Imam Quli Khan zu wechseln. Imam Quli Khan akzeptierte dies und somit ging Khaplu für Sher Khan nahezu kampflos verloren.

5. Aufgabe der Herrschaft in Skardu und Rückzug nach Kartaksho (nach 1667 und vor 1674)

Nach der Eroberung von Khaplu wurde von Imam Quli Khan mit dem Angriff auf Skardu der endgültige Sieg gegen Sher Khan ins Auge gefasst. Mit Muhammad Rafi und Bahram als Anführer versammelte sich auf Anordnung von Imam Quli Khan eine große Armee in Kuardo (siehe Abbildung 1, unmittelbar nördlich von Skardu auf der rechten Seite des Indus), setzte über den Indus und rückte gegen Skardu vor. Der Armee schlossen sich sogar Truppen von Imam Quli und Sultan Shah (beide waren Brüder von Sher Khan) an. Sher Khan bot die kampflose Übergabe von Skardu unter der Bedingung an, dass man ihm erlaube, sich unbehelligt nach Kartaksho zurückzuziehen. Imam Quli Khan willigte ein und Sher Khan zog sich nach Kartaksho zurück. Muhammad Rafi aber, Murad Khans erbberechtigter Sohn, konnte nun die Herrschaft über Skardu antreten. Amir Khan wurde von Imam Quli Khan als Emir die Herrschaft über Kharku übertragen, so dass sich sein Machtbereich nun von Kiris über Kuru, Balghar und Daghoni bis Kharku erstreckte.

6. Allianz mit Ladakh und Reisen nach Kaschmir. Bündnis von Sher Khan mit seinem Neffen Yakub von Khaplu (nach 1673)

In die Zeit nach Sher Khans Rückzug nach Kartaksho fielen mehrere Ereignisse, die als Vorspiel für den nächsten großen Krieg Sher Khans um die Macht in Baltistan anzusehen sind.

   

Abbildung 3: Westteil von Purik nach Francke, S. 148

 

Abbildung 4: Teile von Purik und Unterladakh mit Kharbu (Mhhar-bu, rot unterstrichen) nach Francke, S. 148

1673 griff der ladakhische Feldherr Shakya Gyatsho (Shākya rgya-mtsho) mit seinen Soldaten Unterladakh und Purik an. 1674 fielen diese Truppen aus Ladakh in Baltistan ein und eroberten Khaplu mit der Festung Thortsi Khar sowie das südöstlich von Khaplu gelegene Chorbat. Das Shigar Nāma erwähnt dieses Ereignis als Krieg zwischen Imam Quli Khan und Ladakh. Die Ladakher setzten nach der Chronik La-dvags rgyal-rabs (Francke, S. 113f) Hatam Khan, Sultan Khan und Ali Khan als Herrscher ein. Bei Hatam Khan handelt es sich um den Sohn des von Murad Khan und Sher Khan ermordeten Rahim Khan. Eine der beiden restlichen Personen ist offenbar identisch mit Yakub, einem Neffen von Rahim Khan und Sher Khan, der aus der Ehe zwischen einer Schwester von Murad Khans und Sher Khans Schwester mit dem rechtsmäßigen, aber früh verstorbenen König Hussain Khan von Khaplu hervorgegangen war. Das Herrschaftsgebiet von Hatam Khan war das Hushe/Saltoro Tal mit den Festungen von Saling und Haldi. Yakub regierte auf der anderen, linken Seite des Shayok in Khaplu. Die dritte hier genannte Person war offenbar als Herrscher über Chorbat eingesetzt.

In der Zeit der Eroberung von Khaplu durch Truppen aus Ladakh, knüpfte Sher Khan Kontakte zu dem ladakhischen Könighaus und schlug vor, dass einer seiner Söhne ein ladakhische Prinzessin heiratete. Es kam zur Hochzeit zwischen einem der Söhne Sher Khans und einer Prinzessin aus Ladakh. Daraufhin bat Sher Khan um die Entsendung von zweitausend Soldaten zu seiner Unterstützung. Nach den Darstellungen des Shigar Nāma (Behrouz, S. 167f) wurde sein Wunsch vom ladakhischen König nicht erfüllt.

Sher Khan unternahm in diesen Zeitraum wenigstens zwei Reisen nach Kaschmir. Die über die zweite Reise im Shigar Nāma (Behrouz, S. 181) geschilderten Ereignisse sind besonders bemerkenswert. Ein Teil von Sher Khans Begleiter hatte ihn in Kaschmir fluchtartig verlassen und war zu Imam Quli Khan geflohen. Die geflohenen Begleiter Sher Khans berichteten, dass Sher Khan den Gouverneur von Kaschmir mit Gold bestochen hatte, woraufhin dieser ihn als Herrscher von Baltistan bestätigte. Auf der Rückreise hatten die Begleiter Sher Khans gegen ihn rebelliert und ihn ausgeplündert, wobei ihm aber mit einigen Begleitern die Flucht gelang. Die bei Imam Quli Khan angekommenen Männer aus dem Gefolge Sher Khans schlugen vor, Sher Khan vor seiner Rückkehr nach Kartaksho gefangen zu nehmen. Imam Quli Khan gab dem nicht statt, weil er sowohl eine Revolte von Untertanen gegen ihren Herrscher grundsätzlich missbilligte als auch zu der Zusicherung stand, dass Sher Khan das ihm zugesagte Refugium Kartaksho belassen bleiben sollte.

Diese Entscheidung Imam Quli Khans sollte sich als folgenschwerer Fehler erweisen, denn nun konnte Sher Khan seinen Plan, einen neuen Feldzug gegen Imam Quli Khan zu führen, in die Tat umsetzen.

Tatsächlich hatte Sher Khan offenbar schon vor einer letzten Reise nach Kaschmir seinen in Khaplu residierenden Neffen Yakub auf seine Seite gezogen. Nachdem Yakub die Seiten zu seinem Onkel Sher Khan gewechselt hatte, schickte er eine Nachricht zu seinem Cousin Hatam Khan nach Haldi, in der er das Verhalten von Amir Khan und Imam Quli Khan gegenüber Hatam Khan und ihm selbst als demütigend und erniedrigend darstellte. Yakub forderte Hatam Khan auf, sich mit ihm und ihrem gemeinsamen Onkel Sher Khan zu verbünden. Er bot seinem Cousin an, seine Tochter zu heiraten und versprach, ihm zusätzlich zur unangefochten Beibehaltung der Herrschaft über Haldi die Verfügungsgewalt über Sarfah Khar und die Oberherrschaft über Khaplu zu übertragen. Sher Khan hielte sich zwar zurzeit in Kaschmir auf, würde ihn aber bei seiner Rückkehr belohnen. Er wies daraufhin, dass die Feinde aus Shigar zwar in Sher Khans Land eingedrungen seien, seine Festung aber uneinnehmbar sei und es von daher seinen Feinden nicht gelingen werde, Thron und Krone an sich zu reißen. Im Fall seines Sieges würde Sher Khan ihn als Emir von Khaplu einsetzen. Yakub gab zu, es sei wahr, dass Sher Khan und Murad Khan Hatam Khans Vater Rahim Khan ermordet hätten. Er erläuterte aber, dass dies nunmehr kein Hindernis dafür sein sollte, sich mit Sher Khan zu verbünden. Hatam Khan wandte sich daraufhin von Imam Quli Khan ab und schloss ein Bündnis mit Yakub.

7. Erneute Besetzung von Skardu und Inhaftierung des rechtmäßigen Herrschers Muhammad Rafi Khan (nach 1674)

Als Imam Quli Khan erfuhr, dass Sher Khan nach seiner Rückkehr nach Kartaksho seinen in Khaplu regierenden Neffen Yakub um militärische Hilfe gebeten und von ihm Nachschub anfordert hatte, versammelte er unweit der Festung Kahchana (siehe Wohnburgen (Khar) und Bergfestungen in Baltistan, Abschnitt 4.2.) in Sundus (Sondus der Karten in Abbildung 1 und 2 nordwestlich von Skardu) die wehrfähigen Männer von Skardu, erklärte ihnen die militärische Gefahrenlage und teilte mit, dass er ihrer Hilfe eigentlich nicht benötige, da er mit seinen Soldaten aus Shigar den Kampf alleine entscheiden könne. Die Krieger aus Skardu erklärten dem König aus Skardu, dass sie ihn unterstützen würden und zum Kampf gegen Sher Khan bereit seien. Imam Quli Khan schätzte diese Zusage der Leute aus Skardu als wertlos ein und forderte Muhammad Rafi Khan auf, mit der Unterstützung der Truppen aus Shigar dem drohenden Angriff Sher Khans zuvorzukommen. Der naive Muhammad Rafi Khan glaubte aber einerseits nicht, dass sein Onkel Sher Khan seinen Eid, ihn als Herrscher von Skardu anzuerkennen, brechen würde und vertraute dem Gelübde der Einwohner von Skardu, nur ihn als König zu dulden und ihn entsprechend zu verteidigen. Daraufhin begab sich Muhammad Rafi Khan mit seinen Soldaten nach Skardu und Imam Quli Khan kehrt unverrichteter Dinge nach Shigar zurück.

Die Befürchtungen von Imam Quli Khan sollten sich kurz danach bewahrheiten. Sher Khan besuchte unter dem Vorwand friedlicher Absichten seinen Neffen Muhammad Rafi Khan in Skardu und schmeichelte sich bei ihm ein. Bei der nächstpassenden Gelegenheit ließ er den arglosen Muhammad Rafi Khan in Parkuta einkerkern und übernahm wieder die Macht in Skardu. Damit war die Grundlage für den nächsten Krieg gegen Imam Quli Khan geschaffen. Skardu war wieder in seinem Besitz, Rondu wurde ohnehin von seinem Bruder Ali Shah regiert, der ihm treu ergeben war, und in Khaplu hatte sich sein Neffe Yakub mit ihm verbündet. Zudem hatte, wie schon erläutert, Yakub seinen auf der anderen Seite des Shayok in Saling und Haldi residierenden Cousin Hatam Khan überredet, auf Sher Khans Seite zu wechseln.

8. Kämpfe um Kharku, Skardu, Kiris und Kuru (nach 1674)

Hatam Khan und Yakub rückten gemeinsam gegen Kharku vor und eroberten die Bergfestung nach zweitägiger Belagerung, wobei sie alle Verteidiger töteten. Als Imam Quli Khan diese Nachricht erreichte, kündigte er wutentbrannt an, er werde zunächst Skardu erobern und anschließend Yakub und Hatam Khan vom Erdboden vertilgen.

Zwischenzeitlich entsandte Imam Quli Khan eine Truppe von vierzig Reitern und vierzig Musketieren, die gegen Yakub und Hatam vorrückte. Nach dem Sieg über ihre Feinde, begaben sich die Angreifer nach Kharku. Ali Khan und Babur belohnten die Sieger. Wenig später starb Ali Khan und vier Monate später starb auch Babur in Kharku. Der über den Tod der beiden entsetzte Imam Quli Khan erteilte den Befehl, die Festung von Kharku, in der die beiden gestorben waren, in Brand zu setzen.

In Skardu hingegen beriet sich Sher Khan mit seinem Wesir, wie man Kiris erobern könnte. Amir Khan weilte zu dieser Zeit außerhalb von Kiris in Shigar und hatte die Verwaltung von Kiris seinem Stellvertreter Ismail Mir übertragen. Sher Khan schickte einen Boten nach Kiris, um Ismail Mir auf seine Seite zu ziehen. Ismail Mir folgte den Verlockungen Sher Khans und beging Verrat an Amir Khan, indem er zuließ, dass die Truppen Sher Khans kampflos die Burg von Kiris einnahmen. Sher Khan hatte somit die Macht über Kiris erlangt.

Als Imam Quli Khan diese Nachricht erhielt, informiert er sofort Amir Khan, ließ es aber nicht zu einer sofortigen militärischen Gegenaktion kommen. Inzwischen schickte Sher Khan an den in Khaplu regierenden Yakub eine Boten und forderte ihn auf, zur Eroberung von Shigar eine große Armee zu senden. Yakub sagte aber nur zu, eine kleine Truppe kampferprobter Männer zur Unterstützung vom Sher Khan zu schicken. Als Imam Quli Khan von den Angriffsplänen Sher Khans gegen Shigar hört, entschloss er sich, militärisch massiv gegen Sher Khan vorzugehen.

Eine unter dem Oberbefehl von Amir Khan stehende Armee brach von Shigar auf, um Sher Khan niederzuzwingen. Die Truppen versammelten sich in Nar, wo sie nachts den Indus überquerten. Ziel dieser Operation war es, den anrückenden Truppen Sher Khans den Weg zu versperren. Sher Khans Truppen wurden geschlagen und vierhundert feindliche Krieger gerieten in Gefangenschaft. Die Siegesnachricht wurde Amir Khan überbracht. Damit war die Festung Kharphocho aber noch nicht eingenommen. Um den Feind in Kharphocho von der Wasserversorgung abzuschneiden, baute man vom Satpara-See aus einen Kanal, der das Wasser so ableitete, dass das Bett des Flusses, der Skardu mit Wasser versorgte, austrocknete. Dann errichtete man einen Turm mit einer Wurfmaschine, mit der man die Feinde mit Steinen bombardierte. Als letztes Mittel baute man ein Schiff, dass auf dem Indus verankert werden sollte und von dem man die Feinde, die von dort noch Wasser holten, unter Beschuss nehmen konnte. Dieses gelang aber erst beim zweiten Versuch.

Während der Abwesenheit Sher Khans hatte Imam Quli den in Parkuta gefangenen Muhammad Rafi befreit und nach Skardu zurückgeholt. Es kam nun zu einem Bündnis von Muhammad Rafi und Imam Quli Khan. Imam Quli bestellte Hasan Mir und Sultan Khan nach Sundus. Der König von Shigar stellt Sultan Khan einhundert Krieger zur Seite, mit denen dieser in der Festung Kahchana Stellung bezog.

Unterdessen richtete Sher Khan sein Augenmerk auf Kuru, welches immer noch den Gefolgsleuten von Imam Quli Khan unterstellt war. In Hinblick auf die Festung von Kuru verdient zunächst deren Vorgeschichte eine besondere Beachtung. Eigentlich hatte Amir Khans Vater Ahmad Mir die Verfügungsgewalt über Kuru seinem zweiten Sohn Hatam Khan übertragen. Es war aber Amir Khan gelungen, seinen Bruder mit der Hilfe von Imam Quli Qan aus Kuru zu verdrängen. Zwar trat danach Hatam Khan ebenfalls in die Dienste von Imam Quli Khan, doch hatte er Imam Quli Khan den Verlust seines rechtmäßigen Erbes niemals verziehen. Als Amir Khan in Kharku verstorben war, verließ Hatam Khan die Dienste von Imam Quli Khan und schloss sich Sher Khan an. Er versuchte zusammen mit Sher Khan die Burg von Kuru zu erobern, aber der als Burgvogt eingesetzte Mir Malik konnte die Festung erfolgreich verteidigen. Hatam Khan kehrte mit Sher Khan unverrichteter Dinge in dessen Gebiete zurück. Als die Festung in Kuru einen anderen Burgvoigt erhielt, erfuhr Hatam Khan von einem Spion, dass die wehrfähigen Männer von Kuru weiterhin loyal auf seiner Seite standen. Hatam Khan begab sich in der Nacht nach Kuru, wo er von den Einwohnern freundlich begrüßt wurde und wo er die Festung kampflos übernehmen konnte.

Imam Quli Khan beorderte nun zunächst Muhammad Rafi mit seiner Armee zu sich, verließ Shigar und bezog in Nar Stellung. Er beauftragt Imam Quli, die Stellungen in Skardu aufrecht zu halten. Die Aufgabe der Rückeroberung von Kuru wurde Watul übertragen, der in die Oase Kuru vorrückte. Dort befahl dieser die Vernichtung der Ernte und ließ alle Dattelpalmen fällen. Als Sher Khan von dieser Aktion erfuhr, rückt er nach Parkuta vor, wo er über weitere Maßnahmen beraten ließ. Sher Khans Soldaten rückten in Kuru ein, wo sie eine eiserne Festung errichteten. Es kam zu einer Schlacht mit den Kriegern von Shigar, die für beide verlustreich war. Der Verlauf des Kampfes beunruhigte Qasim, den Wesir von Sher Khan, sehr. Er forderte Sher Khan auf, den aus Kaschmir gekommenen Ali Quli Khan zu Unterstützung der Truppen Sher Khans nach Kuru zu schicken.

9. Intermezzo in Purik: Der Feldzug des Gouverneurs von Kaschmir Ibrahim Khan zur Befreiung von Purik (ca. 1678/79)

Auf die Eroberung von Purik durch den ladakhischen Feldherrn Shakya Gyatsho im Jahre 1673 war von Kaschmir aus keine unmittelbare Reaktion erfolgt. Dies änderte sich mit dem zweiten Amtsantritt von Ibrahim Khan im Jahre 1678 als Gouverneur von Kaschmir (Petech, S. 68). Ibrahim Khan schrieb einen Brief an Imam Quli Khan und Muhammad Rafi Khan, indem er mitteilte, dass er in Purik eingetroffen sei, um die Muslime zu befreien und das Land Purik von den Ungläubigen zu befreien. Er habe Sher Khan aufgefordert, ihm zur Hilfe zu kommen. Sher Khan habe ihm mitgeteilt, er sei unterwegs zu ihm. Ibrahim Khan forderte Imam Quli Khan und Muhammad Rafi Khan auf, ihn mit Truppen ebenfalls zu unterstützen (Behrouz, S. 203). Wir wissen nicht, ob Imam Quli Khan und Muhammad Rafi Khan Krieger nach Purik schickten. Im Hinblick auf Sher Khan findet sich aber ein Bericht im Shigar Nāma, dass seine Krieger siegesfroh aus Purik zurückkamen, wo sie zwei Festungen erobert hatten. Ladakhische Quellen berichten allerdings hierzu, dass dieser Krieg für die Truppen aus Ladakh siegreich beendet wurde (Francke, S. 114 und 243).

Eine genaue zeitliche Einordnung dieses Konflikts in die Abfolge der kriegerischen Auseinandersetzungen in Baltistan selbst ist nicht möglich. Immerhin kann man aus dieser Invasion von Ibrahim Khan in Purik ableiten, dass der Krieg zwischen Sher Khan und Imam Quli Khan nach 1678/79 noch unvermindert weitergeführt wurde.

10. Innere Auseinandersetzungen zwischen Yakub und Hatam Khan in Khaplu (nach 1678/79)

Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Vorgehen von Ibrahim Khan gegen Purik in Khaplu der Anlass dafür war, dass Yakub die dort stationierten ladakhischen Truppen aus seinem Land vertrieb. Danach unternahm er den Versuch, den im Hushe/Saltoro Tal regierenden Hatam Khan zu beseitigen. Yakubs Krieger drangen nach Saling vor und eroberten die dortige Festung. Dann marschierten sie nach Haldi, wo sie das Tor zur Festung einschlugen. Bei der folgenden Plünderung erlebten sie aber einen Gegenangriff von Hatam Khans Soldaten und erlitten eine Niederlage. Yakub zog sich daraufhin mit seinen verbleibenden Truppen nach Khaplu zurück. Hatam Khan aber unterstellte sich wieder Imam Quli Khan, der das Bündnis mit Hatam Khan trotz der von Hatam Khan in der Vergangenheit begangenen Fehler akzeptierte. Für Sher Khan bedeutete dies eine entscheidende Schwächung seines Verbündeten im Osten Baltistans.

11. Sher Khans endgültige Niederlage und sein Gang ins Exil (nach 1678/79)

Die militärische Lage Sher Khans in Skardu steuerte nun unaufhaltsam auf eine Niederlage zu. Seine Feinde beherrschten das Skardu Tal und hatten die Festung Kahchana in ihrem Besitz. Zusätzlich musste er feststellen, dass die waffenfähigen Männer Skardus ihn nicht mehr unterstützten. Kharphocho, die große Festung von Skardu war zwar noch in seiner Hand, seine übrigen Truppen hatten sich in Shigri, d.i. das nördlich von Biansah gelegene Shagari der auf Abbildung 2 zu findenden Karte, verschanzt. Imam Quli Khan verzichtete auf einen Sturmangriff, da er davon ausging, dass ihm die Feinde in der gegebenen Situation ohnehin in die Hände fallen werde. Qasim, der Wesir und Ratgeber Sher Khans, versuchte einen Entlastungsangriff, in dem er mit seinen Truppen von Kharphocho aus die von Sultan Khan gehaltene Burg Kahchana angriff. Er erlitt eine Niederlage, wobei sein Sohn schwer verletzt wurde.

In dieser verzweifelten Lage wandte sich Sher Khan an seinen in Rondu regierenden Bruder Ali Shah und bat ihn um Truppenhilfe. Ali Shah rückte mit seinen Kriegern bis Bashu, d.i. das nordwestlich von Skardu auf der linken Indusseite gelegene Basho der Karte von Abbildung 2, vor. In Kusura (Abbildung 2: Kachura, südwestlich von Basho gelegen) stellten sich ihnen Krieger von Imam Quli Khan entgegen. Ali Shah und seine Männer zogen sich aus Bashu und Kusura zurück. Sie wählten einen ohne Pferde begehbaren, geheimen Bergpfad, um nach Skardu zu gelangen. Eine spürbare Entlastung für die nahezu aussichtslose Situation Sher Khans brachte diese Verstärkung nicht.

Angesichts einer wegen Mangels an Wasser und Nahrung drohenden Revolte der in der Festung Shigri eingeschlossenen Krieger begab sich der Wesir Qasim zu Sher Khan, um die schwierige Lage zu beraten. Sher Khans Bruder Ali Shah schickte einen Boten zu Imam Quli Khan, um einen Frieden auszuhandeln. Imam Quli Khan lehnte nun einen Friedensschluss kategorisch ab und teilte mit, er werde solange kämpfen, bis Muhammad Rafi Khan die Herrschaft seines Vaters Murad Khan und seine Burg Kharphocho zurückerhalten hat.

In dieser verzweifelten Lage unternahm der Wesir Qasim noch einmal den Versuch, für die Belagerten in der Burg von Shigri Nahrung zu beschaffen. Er schickte vierzig seiner Krieger, beladen mit Nahrungsmitteln, in der Nacht los, um die Versorgung der eingeschlossenen Truppen sicher zu stellen. Die vierzig Soldaten wurden entdeckt und verloren ihre Getreideladungen. Nun entsandte  Sher Khan selbst Leute, damit sie aus der Gegend um die Festung Kahchana Nahrung erbeuteten und in die Burg brachten. Der Überfall auf einen Mann, der mit einem mit Mehl beladenen Lasttier vorbeikam, misslang völlig.

Das Ergebnis der nun eingetretenen Lage war, dass Sher Khan nur noch bedingungslos kapitulieren konnte. Sher Khan entsandte deshalb auf den Rat seines Bruder Ali Shah hin seinen Wesir Qasim zum Hof von Imam Quli Khan, um die Übergabe der Festung Kharphocho anzubieten und darum zu bitten, Sher Khans Leben zu verschonen. Der Wesir traf am Hof von Imam Quli Khan ein und wurde zum König von Shigar vorgelassen.

Hier endet die für uns wichtigste Quelle über das Leben und die Taten Sher Khans, die Verschronik Shigar Nāma. Genaues über das weitere Schicksal Sher Khans wissen wir nicht. Das Shigar Nāma enthält aber eine Schilderung, mit der das Ende von Sher Khans Herrschaft wohl passend beschrieben wird und die Behrouz (S. 202) wie folgt übersetzt hat:

„Er ließ seine Armee in Kartaksho zurück und ritt mit einigen seiner Anhänger weiter. Er kam in Purik an, aber niemand nahm von seiner Gegenwart Kenntnis. Nun ist er weit entfernt von seiner Armee und hat nur einige Begleiter. Er ist körperlich gesund, jedoch siech und kraftlos.“

12. Literatur

Banat Gul Afridi: Baltistan in History. Peshawar 1988
John Biddulph: Tribes of the Hindoo Koosh. Reprint. New Delhi 2001
Koshrow Behrouz: Shigar- Nāma. Eine persische Verschronik über die Geschichte Baltistans. Kritische Textausgabe, Kommentar und Übersetzung. Unveröffentlichtes Manuskript aus den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts
Alexander Cunningham: Ladák. Physical, statistical, and historical; with notices of the surrounding countries. New Delhi 1977 (reprint)
A. H. Francke: Antiquities of Indian Tibet. Part (Volume) II. The Chronicles of Ladakh and Minor Chronicles. Texts and Translations, with Notes and Maps. (Reprint) New Delhi 1972
Hashmatullah Khan: History of Baltistan. Lok Virsa Translation, Islamabad 1987. Das Original in Urdu wurde 1939 veröffentlicht
Luciano Petech: The Kingdom of Ladakh. C. 950-1842 A. D. Roma 1977

Autor: Dieter Schuh, 2010

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