Tibet-Encyclopaedia

 

Murad Khan (Herrscher in Baltistan bzw. Klein-Tibet)

Murad Khan alias Muhammad Murad (gelegentlich auch Murad Shah oder Shah Murad genannt) war ein Enkel des berühmten Ali Sher Khan. Er regierte in Baltistan in den fünfziger und sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts. Murad Khan folgte in den fünfziger Jahren des 17. Jahrhunderts als Herrscher in Baltistan auf seinen Onkel Adam Khan. Sein Kernland war, wie das aller Mitglieder der Makpon-Herrscherfamilie, das Tal von Skardu. Murad Khan war ein Machtmensch, der auch vor Eidbruch und Mord nicht zurückschreckte. Im Laufe seiner Herrschaft als Statthalter von Adam Khan in Skardu und, nach dessen Tod, als vom Moghul-Kaiser Shah Jahan (1627-1658) bestätigter Nachfolger seines Onkels versuchte er, alle Teilreiche von Baltistan unter seiner Herrschaft zu vereinigen, was ihm aber im Hinblick auf Shigar schon im Ansatz misslang. Seinem Sohn Muhammad Rafi Khan, der bei Murad Khans Tod (nach 1667) noch minderjährig war, ereilte das gleiche Schicksal wie ihm selbst. Beim Tod von Murads Vater Ahmad Khan hatte dessen Bruder Abdal Khan die Herrschaft über Skardu an sich gerissen.  Nach Murad Khans Tod war es sein eigener Bruder und Kampfgefährte Sher Khan, der die Macht in Skardu okkupierte und zeitweilig Murads Sohn Muhammad Rafi Khan in Gefangenschaft hielt.

Inhaltsverzeichnis:

1. Quellen
2. Dienst als Vakil seines Onkels Adbal Khan und Ernennung zum Herrscher von Baltistan
3. Vertreibung aus Shigar und Absetzung durch Kaiser Shah Jahan. Verheiratung mit der Tochter seines Onkels Adam Khan
4. Eroberungszüge während seines Dienstes als Statthalter von Adam Khan in Skardu
4.1 Die Eroberung von Khartaksho
4.2 Die Eroberung von Khaplu
4.3 Feldzug gegen Kharbu (mKhar-bu) in Unterladakh
5. Aktivitäten als Herrscher von Baltistan nach dem Tod von Adam Khan und nach seiner Ernennung durch den Kaiser Shah Jahan
5.1. Feldzüge gegen Gilgit
5.2. Pläne, Shigar zu erobern
6. Treffen mit dem Franzosen François Bernier
7. Kontakte zum Kaiserhof von Aurangzeb
8. Literatur

   

Abbildung 1: Der Moghul-Kaiser Shah Jahan

 

Abbildung 2: Der Moghul-Kaiser Aurangzeb

 1. Quellen

Murad Khan wird in der Geschichtsschreibung der Moghul-Kaiser von Láhorí und Ináyat Khán als Muhammad Murad erwähnt. In der Chronik ´Alamgir Nama des Mirza Mohammad Kazim, die die ersten zehn Jahre der Regierung des Kaisers Aurangzeb (1658-1707) beschreibt, wird Murad Khan mehrfach im Zusammenhang mit der Ablieferung von Tributen an den Kaiserhof erwähnt (Petech, S. 65). Murad Khan war es auch, der 1663 mit dem Franzosen Bernier, welcher im Gefolge von Kaiser Aurangzeb (1658-1707) nach Kaschmir gereist war, zusammentraf und von diesem über sein Land Baltistan befragt wurde (siehe: Entdeckungs- und Forschungsgeschichte Baltistans, 3. Erste Informationen über Baltistan in Europa: Francois Bernier). Die Hauptquelle über die Ereignisse in Murad Khans Leben aber bildet die Verschronik Shigar Nāma. In den Genealogien der Skardu-Herrscher von Cunningham (S. 35) und Francke (S. 93) wird er als Shah Murad aufgeführt. Bemerkenswert ist, dass beide Genealogien die historisch belegten Herrscher Abdal Khan und Adam Khan nicht enthalten. Die Datierungen seiner Herrschaftszeit, die Cunningham und Francke geben, sind willkürlich gewählt und nicht zu berücksichtigen.

Abbildung 3: Orientierungshilfe für Baltistan: Die Regionen Skardu, Shigar, Kiris, Khaplu und Kartaksho (als Kharmang verzeichnet). Die Karte wurde vom Aga Khan Cultural Service Pakistan erstellt

 2. Dienst als Vakil seines Onkels Adbal Khan und Ernennung zum Herrscher von Baltistan

Nach dem Tod von Ali Sher Khan übernahm (nach 1622/1623) sein ältester Sohn Ahmad Khan als rechtmäßiger Thronfolger die Herrschaft in Baltistan. Bei dessen frühen Tod war sein Sohn Murad Khan offenbar noch nicht volljährig, so dass sich zwei der übrigen Söhne Ali Sher Khans, nämlich Adam Khan und Abdal Khan, um die Nachfolge stritten. In diesem Streit setzte sich der jüngere Abdal Khan durch und regierte in Skardu (siehe Abbildung 1) bis 1636. Es war gewisslich ein guter Schachzug, dass er den noch jungen Murad Khan, der mit Erreichen der Volljährigkeit eigentlich als Thronfolger hätte eingesetzt werden müssen, mit dem Amt des leitenden Ministers (Vakil) seiner Verwaltung betraute. Zugleich wurde Murad Khan offenbar auch die westlich von Skardu am Indus gelegene Region Rondu als eigenes Herrschaftsgebiet zugeteilt.

Die Region von Rondu war ein kleinteiliges Konglomerat von Dörfern an den steil abfallenden Hängen des Indus und zählte neben Kiris und Kartaksho zu den drei kleineren Teilreichen von Baltistan. Folgen wir den Angaben des Shigar Nāma, so hielt sich Murad Khan dort nicht gerne auf. Einer der Gründe hierfür waren zweifellos, wie bei Kartaksho, die klimatischen Verhältnisse. Aufgrund der steilen Berge ist die Sonnenscheindauer in beiden Gebieten wesentlich kürzer als z. B. in den Regionen des Skardu Tals oder in Shigar, was insbesondere bei einem Aufenthalt im Winter deutlich erschwerte Lebensverhältnisse mit sich brachte.

Bei der Eroberung von Skardu im Jahre 1636 durch Truppen des Moghul-Kaisers Shah Jahan (1627-1658) kämpfte Murad Khan zunächst an der Seite seines Onkels Abdal Khan und übernahm die Verteidigung der auf der westlichen Seite des Felsens von Skardu gelegenen Festung Kahchana, während Abdal Khan sich in der großen Festung Kharphocho verschanzte. Die Invasoren wurden bei ihrem Vorhaben von verschiedenen Gruppen des Adels von Baltistan unterstützt, insbesondere auch von Adam Khan, der sich als der Ältere der beiden übrig gebliebenen Söhne von Ali Sher Khan bei der Thronfolge übergangen fühlte und sich deswegen auch zuvor heimlich beim Gouverneur von Kaschmirs beschwert hatte. Adam Khan überredete seinen Neffen Murad Khan zur Aufgabe von Kahchana, was letztendlich dazu führte, dass Abdal Khan kapitulierte.

Grundsätzlich ist hierzu festzustellen, dass man diese Eroberung Baltistans durch eine Armee von Shah Jahan kaum erfolgreich hätte zu Ende führen können, wenn der in Baltistan bei großen Teilen der Bevölkerung unbeliebte Abdal Khan nicht insbesondere durch Mitglieder der Herrscher-Familie, wie durch seinen Bruder Adam Khan und auch von seinem Premierminister und Neffen Murad Khan, verraten worden wäre. Ähnliches  ist übrigens Ahmad Shah 204 Jahre später beim Einfall der Dogra in Jahre 1840 in Baltistan widerfahren.

Nachdem  Abdal Khan sich den kaiserlichen Truppen ergeben hatte, wurde sein Neffe Murad Khan vom Führer der Invasionsarmee, dem Gouverneur Zafar Khan aus Kaschmir, für seinen Verrat fürstlich belohnt. Murad Khan wurde von Zafar Khan als neuer Herrscher von Skardu und als Vertreter Baltistans gegenüber der Moghul-Großmacht eingesetzt.

3. Vertreibung aus Shigar und Absetzung durch Kaiser Shah Jahan. Verheiratung mit der Tochter seines Onkels Adam Khan

Für das weitere Schicksal Murad Khans waren zwei Ereignisse von besonderer Bedeutung.

1. Der Kaiser Shah Jahan war mit der Ernennung von Murad Khan nicht einverstanden und annullierte die Entscheidung Zafars Khans, durch die Murad Khan zum Nachfolger von Abdal Khan bestellt worden war. Sein Onkel Adam Khan wurde vom Kaiser als Nachfolger Abdal Khans eingesetzt. Dies geschah allerdings mit der Auflage, dass Adam Khan als Garant für die Botmäßigkeit Baltistans in Kaschmir zu residieren hatte.

2. Der Adel von Baltistan unter Führung von Imam Quli Khan versammelte ein Heer, um Murad Khan abzusetzen und rückt gegen Shigar (siehe Abbildung1) vor, wo sich Murad Khan aufhielt. Die Truppen wurden geführt von Amir Khan, einem der beiden Söhne des Herrschers von Kiris, Ahmad Mir (vermutlich der Herrscher von Kiris selbst), Mirza Khan, dem Herrscher von Kartaksho und späteren Statthalter von Adam Khan in Skardu, und Sayid Khan, über den ansonsten nichts bekannt ist. Die Schlacht wurde von den Angreifern gewonnen. Die Murad Khan unterstellten Truppen und die Bewohner von Shigar wandten sich von ihm ab, so dass er nach Rondu fliehen musste. Zuvor plünderte er das Eigentum von Hasan Khan, dem Vater und Vorgänger von Imam Quli Khan in Shigar.

Murad Khan und seine Anhänger hielten sich ein bis zwei Jahre in Rondu auf. Danach verließ Murad Khan Rondu, um zum Kaiserhof des Moghul-Kaisers Shah Jahan zu reisen. Die Verwaltung von Rondu vertraute er Ali Shah und seinem Bruder Sher Shah alias Sher Khan an. Letzterer wurde in Rondu sein Stellvertreter.

Murad Khan gelangte zum Hof des Kaisers Shah Jahan. Der Kaiser Shah Jahan wollte nach der Anreise von Murad Khan und auf dessen Vortrag hin diesem eigentlich die Macht in Baltistan übertragen. Die Berater des Kaisers bewirkten allerdings, dass Shah Jahan sein Vorhaben änderte und anordnete, dass Murad Khan die Tochter seines Onkels Adam Khan heiraten sollte. Murad Khan blieb nichts anderes übrig, als diese Entscheidung zu akzeptieren und lebte die folgenden Jahre bei seinem Schwiegervater als dessen Stellvertreter in Kaschmir.

4. Eroberungszüge während seines Dienstes als Statthalter von Adam Khan in Skardu

Nach der Rebellion von Mirza Khan aus Kartaksho (siehe Abbildung 3: = Kharmang), der von Adam Khan als sein Statthalter in Skardu eingesetzt worden war, wurde 1650/51 eine erneute Invasion kaiserlicher Truppen in Baltistan notwendig. Die einrückenden Truppen wurden von Adam Khan und Murad Khan begleitet. Unterstützung fand dieser Feldzug von Imam Quli Khan aus Shigar. Mirza Khan verschanzte sich zunächst in der Festung Kharphocho in Skardu, gab dann aber angesichts der hoffnungslosen Lage auf und konnte sich, da ihm freies Geleit zugesichert wurde, zunächst nach Shigar und anschließend nach Kartaksho zurückziehen. Murad Khan wurde zum Statthalter von Skardu ernannt, während sein Onkel Adam Khan mit den kaiserlichen Truppen nach Kaschmir zurückkehrte.

Murad Khan begann nun seine Nachbarn in Baltistan zu bekriegen, was zunächst zur Eroberung von Kartaksho und Khaplu (siehe Abbildung 3) führte.

4.1. Die Eroberung von Kartaksho

Kurz nach seiner im Amtsübernahme begann Murad Khan, einen Angriff gegen Kartaksho zu planen, um den ihm verhassten, in Kharmang residieren Mirza Khan abzusetzen. Zunächst fragte er in dieser Angelegenheit seinen Onkel Adam Khan um Rat, doch dieser wollte hierzu eine Entscheidung nicht fällen und verwies ihn an Imam Quli Khan, dem Herrscher von Shigar. Letzterer entschied nach Rücksprache mit seinen Ratgebern, die Pläne Murad Khans zu unterstützen und zog mit ihm gegen Kartaksho in den Krieg. Der Feldzug begann mit der Belagerung der Festung von Parkuta, die nach kurzer Zeit erobert wurde. Es gelang Ali Khan, den Sohn von Mirza Khan, gefangen zu nehmen. Die Festung von Parkuta wurde zerstört.

Beim weiteren Vorrücken gegen Kharmang erwies sich die dortige Festung als militärisch uneinnehmbar. Um die Burg aushungern zu können, ließen die Angreifer das gesamte Land Kartaksho plündern und konfiszierten alle Nahrungsvorräte und Haustiere, sowie Gold und Schmuck. Die Versorgung der Belagerer war damit sichergestellt und der belagerte Feind vom Nachschub abgeschnitten. Nach vier Monaten gab Mirza Khan auf und übergab seine Festung nach der Zusicherung von freiem Geleit an die Belagerer. Mirza Khan ging nach dem Shigar Nāma nach Ladakh ins Exil. Tatsächlich aber kehrte er kurz danach nach Baltistan zurück und hielt sich in Khaplu auf.

Murad Khan übertrug die Herrschaft über Kartaksho an seinen Bruder Sher Khan. Ali Khan, dem Sohn von Mirza Khan, gelang es, aus der Gefangenschaft zu fliehen und in Khaplu Zuflucht zu nehmen.

4.2 Die Eroberung von Khaplu

Mit dem nachfolgenden Feldzug gegen Khaplu kam Murad Khan seinem offenkundigen Ziel, den Herrschaftsbereich seines Großvaters Ali Sher Khan wiederherzustellen, einen großen Schritt näher. Sonstige Anlässe für diesen Feldzug gab es genug. Einerseits war Ali Khan, der Sohn des absetzten Statthalters Mirza Khan, aus Kartaksho dorthin geflohen und hatte in Khaplu Zuflucht gefunden. Anderseits war Mirza Khan offenkundig von Ladakh aus dorthin zurückgekehrt. Der wichtigste Anlass war die schlechte Behandlung von Murad Khans und Sher Khans Schwester und ihrer Söhne Babur und Yakub. Diese Schwester war mit Hussain Khan, dem Herrscher von Khaplu, verheiratet. Als dieser starb, übernahm Rahim Khan die Macht in Khaplu und behandelte die Frau seines Bruders und deren Söhne so schlecht, dass diese nach Ladakh ins Exil gehen mussten. Als Murad Khan gegen Khaplu vorrückte, herrschte Rahim Khan in Khaplu.

Die vereinigten Truppen von Skardu und Shigar rückten auf dem traditionellen Reiseweg entlang der rechten Seite des Shayok (auf Abbildung 1 als Shyok bezeichnet) gegen Khaplu vor. Ein erster Widerstand ergab sich in Kharku (als Kharko auf Abbildung 3 verzeichnet). Dieser Ort und seine Bergfestung liegen unmittelbar östlich von Daghoni und nordwestlich von Khaplu. Die Festung von Kharku wurde nach einiger Zeit der Belagerung erobert und die dort gelagerten Vorräte konfisziert. Nächstes Angriffsziel war das im Hushe/Saltoro Tal gelegene Haldi (siehe Abbildung 3, nördlich von Khaplu), wo man die dortige Burg eroberte und zerstörte. Gold, Pferde und Vorräte wurden erbeutet. Das folgende militärische Ziel war die Einnahme der Ortschaft (Burg) Sarfah Khar. Von hier aus schrieb Murad Khan einen Drohbrief an Rahim Khan, der sich in die Bergfestung Thortsi Khar (siehe Wohnburgen (Khar) und Bergfestungen (Khardong) in Baltistan, 5.1. Thortsi Khar) zurückgezogen hatte. Rahim Khans Antwort kündigte Murad Khan erbitterten Widerstand an. Nach einer drei Monate dauernden Belagerung, bei der man das Umland der Burg ausplünderte, mußten Rahim Khan und seine Krieger wegen Mangel an Wasser und Nahrung kapitulieren. Murad Khan und Sher Khan versprachen dem unterlegenen Herrscher von Khaplu freies Geleit. Nach der Übergabe von Thortsi Khar brachen Murad Khan und sein Bruder ihr Versprechen und ließen Rahim Khan ermorden. Mirza Khan aus Kartaksho wurde gefangen genommen, nach Indien deportiert und dort eingekerkert.

4.3 Feldzug gegen Kharbu (mKhar-bu) in Unterladakh

Purik und Unterladakh (La-dvags gsham) grenzen südlich an Baltistan an. Die Bewohner von Purik mit dem Hauptort Kargil (Abbildung 4, Dkar-skyil) waren schon in 17. Jahrhundert zum Islam bekehrt. Nach Mirza Haydar (1. Hälfte des 16. Jahrhunderts) gehörte Purik zu Baltistan. Spätestens seit Ali Sher Khan (um 1600) war Purik ein Bestandteil des von Skardu aus dominierten Herrschaftsbereichs. Ein Versuch des ladakhischen Königs Seng-ge Nam-gyel (Seng-ge rnam-rgyal), Purik zu erobern, scheiterte im Jahre 1639/40 (siehe Adam Khan, 5. Krieg gegen den ladakhischen König Sengge Namgyel). Offenbar hatte der König Deden Namgyel (bDe-ldan rnam-rgyal), der Nachfolger von Sengge Namgyel, wieder in Kharbu (mKhar-bu) Fuß gefasst, denn das Shigar Nāma berichtet, dass Murad Khan nach der Eroberung Khaplus den Beschluss fasste, Kharbu zu erobern. Der Hintergrund für diesen Entschluss war aber auch eine persönliche Angelegenheit. Murad Khans Schwester und ihre beiden Söhne Babur und Yakub waren von Khaplu nach Ladakh geflohen und wurden dort vom König von Ladakh festgehalten. Wie wir aus dem Folgenden sehen werden, zog sich Murad Khan nach der Auslieferung seiner Schwester und ihrer Söhne wieder aus Kharbu zurück.

   

Abbildung 4:Westteil von Purik nach Francke, S. 148

 

Abbildung 5: Teile von Purik und Unterladakh mit Kharbu (Mhhar-bu, rot unterstrichen) nach Francke, S. 148

 Imam Quli Khan schickte Truppen unter Führung von Amir Khan, seinem oben schon erwähnten Wesir und Herrscher von Kiris, um Murad Khan bei seinem Feldzug zu unterstützen. In Kharbu angekommen, gewannen die Soldaten aus Baltistan die erste Schlacht, besetzen die Festung von Kharbu und nehmen 900 gegnerische Soldaten gefangen. Um die Gefangenen frei zu kaufen, bot der ladakhische Feldherr die Schwester von Murad Khan und ihre Söhne Yakub und Babur, die aus Khaplu vertrieben worden waren und sich nun in seiner Gewalt befanden, zum Tausch gegen die 900 Gefangenen an. Murad Khan stimmt dem Austausch zu, ließ die 900 Gefangenen frei und kehrte anschließend mit seiner Schwester und seinen beiden Neffen nach Skardu zurück. Dort übertrug er die Herrschaft über Khaplu seinen beiden Neffen Yakub und Babur.

5. Aktivitäten als Herrscher von Baltistan nach dem Tod von Adam Khan und nach seiner Ernennung durch den Kaiser Shah Jahan

Als Murad Khan die Nachricht erreichte, dass Adam Khan verstorben war, verließ er mit einem Gefolge Skardu und reiste nach Indien an den Hof des Moghul-Kaisers Shah Jahan (1627-1658). Shah Jahan wies ihm das Amt von Adam Khan zu. Zu diesem Amt gehörte auch die Verfügung über ein Landgut (Jagir) in Kaschmir, welches Murad Khan auf seiner Rückreise nach Skardu besuchte. In den folgenden zwei, drei Jahren fanden von Murad Khans Seite keine weiteren militärischen Aktivitäten statt.

5.1. Feldzüge gegen Gilgit

Grundlage der Expansionsversuche von Murad Khan nach Gilgit war die Heirat einer seiner Töchter mit einem Sohn von Habib Khan, des Raja von Gilgit. Die Folge hiervon war, dass Habib Khan ihn bei einer Auseinandersetzung mit einem seiner Söhne um Hilfe rief, was eine militärische Intervention von Murad Khan in Gilgit zur Folge hatte. Der Versuch, daraufhin eine Oberherrschaft über Gilgit zu etablieren, schlug aber nach insgesamt drei hierauf folgenden Interventionsversuchen letztendlich fehl.

Abbildung 6: Orientierungshilfe zur Lage von Skardu und den westlich angrenzenden Ländern Astor, Chilas, Gilgit und Hunza. Die Karte wurde vom Aga Khan Cultural Service-Pakistan erstellt

 Ausgangspunkt der Intervention von Murad Shah in Gilgit war die Rebellion eines der Söhne von Habib Khan, des Königs von Gilgit, gegen seinen Vater. Dieser Sohn schloss eine Beistandsvereinbarung mit Shah Rais, dem Herrscher von Chilas. Habib Khan wandte sich an Murad Khan mit der Bitte, Truppen zu seiner Unterstützung nach Gilgit zu entsenden. Eine Armee mit Kriegern aus Skardu und Shigar unter Führung von Imam Quli Khan rückte nach Gilgit vor, wo Habib Khan sie empfing und ihnen den Weg zu der Burg des Aufrührers aufzeigte. Die Krieger aus Baltistan rückten bis Numal (als Nomal auf diversen Karten verzeichnet. Nördlich von Gilgit (Abbildung 6) am Hunza-Fluss gelegen) vor. Es kam zur Schlacht mit den Truppen des aufrührerischen Sohnes, die keine Entscheidung brachte. Anschließend folgte die Belagerung der Festung des Aufrührers, was letztendlich dazu führt, dass die Belagerten wegen Mangels an Wasser und Nahrung aufgeben mussten. Unter einer beeideten Zusicherung von Seiten Imam Quli Khans und Murad Khans, dass man ihm kein Leid zufügen werde, ergab sich der Sohn von Habib und händigte den Belagerern die Verfügungsgewalt über seine Festung aus. Nach Skardu zurückgekehrt brach Murad Khan seinen Schwur und kerkerte den Sohn von Habib Khan ein. Dies führte zu einer Entzweiung zwischen Murad Khan und Imam Quli Khan, der über diesen Eidbruch sehr empört war.

Nach einigen Jahren der Ruhe erreichte Murad Khan die Nachricht, dass sein in Gilgit lebender Schwiegersohn von Aki Khan mit einem Speer durchbohrt und anschließend geköpft worden war. Murad Khan forderte Imam Quli Khan von Shigar auf, an dem nun erneut geplanten Feldzug gegen Gilgit teilzunehmen. Imam Quli Khan weigerte sich und schickt Amir Khan (aus Kiris) mit Kriegern als Unterstützung. Murad Khan rückte mit seinem Bruder Sher Khan und Amir Khan gegen Gilgit vor. Die Angreifer nahmen Aki Khan, der sich in einer Höhle versteckt hatte, gefangen. Murad Khan setzte einen seiner Kriegsführer als Administrator von Gilgit ein und kehrte nach Skardu zurück.

Kaum war Murad Khan nach Skardu zurückgekehrt, kam es in Gilgit unter Führung von Jalis Khan, Haritam und Bhutah zu einem erneuten Aufstand gegen seine Vorherrschaft. Wieder forderte Murad Khan den Herrscher von Shigar Imam Quli Khan auf, persönlich mit einem Heer gegen Gilgit vorzurücken. Imam Quli Khan weigerte sich erneut, an diesem Feldzug teilzunehmen und schickte erneut nur Amir Khan mit Truppen. Für seine Nichtteilnahme gab Imam Quli Khan an, dass die Schwester des Gouverneurs von Kaschgar mit großem Gefolge und mit einem Begleitschreiben des Kaisers Shah Jahan sein Land durchreise und er wegen der dabei erforderlichen Hilfestellung in Shigar unabkömmlich sei. Murad Khan rückte wieder in Gilgit ein, woraufhin seine Widersacher Jalis Khan und Bhutah sich in ein Nachbarland absetzten.

Als Murad Khan wieder nach Skardu zurückkehrte, tauchten Jalis Khan und Bhutah wieder in Gilgit auf und entrissen ihm ein erneutes Mal die Vorherrschaft über dieses Land. Damit waren die Versuche Murad Khans, Gilgit unter seine Vorherrschaft zu bringen, gescheitert.

5.2. Pläne, Shigar zu erobern

Nach den militärischen Abenteuern in Gilgit war es Murad Khans nächstes Ziel, eine Vormachtstellung über das von Imam Quli Kahn regierte Shigar zu etablieren. Murad Khan schrieb deshalb einen Brief an Imam Quli Khan und beschwerte sich darin zunächst, dass dieser ihn auf dem letzten Feldzug nach Gilgit nicht persönlich begleitet hatte. Dann forderte er Imam Quli Khan mit Drohungen auf, ihm die Jahresernte von Shigar zu überlassen, nach Skardu zu kommen und ihm als Oberherrn zu huldigen. Er wies daraufhin, dass Khaplu, Purik, Gilgit und Rondu unter seinem Befehl stehen. Abschließend drohte er mit Krieg, wenn Imam Quli Khan sich ihm nicht unterstellt.

Der alarmierte Imam Quli Khan antwortete hierauf, dass Murad Khan alle seine Erfolge nur ihm zu verdanken habe. Er habe ihn aus dem Kerker von Großtibet (Ladakh) befreit und ihn bei den Eroberungen von Khaplu, Purik, Rondu, Kartaksho, Gilgit und Brushal (Nagar) maßgeblich zur Seite gestanden. Imam Quli Khan kündigte energischen militärischen Widerstand an und wies daraufhin, dass er ein dem Moghul-Kaiser Shah Jahan nahestehender Diener sei. Imam Quli Khan erklärte, er sei niemals Untertan von Shah Murad gewesen und habe sich auch niemals diesem gegenüber unterwürfig gezeigt.

Die Berater von Murad Khan wiesen den Herrscher von Skardu hiernach daraufhin, dass Imam Quli Khan tatsächlich über gute, direkte Verbindungen zu Shah Jahan verfügte und diesen sofort über einen Angriff Murad Khans unterrichten würde. Die Berater empfahlen Murad Khan, nach Kaschmir zu reisen und dem dortigen Gouverneur Nabob Saif Khan seine Beschwerden über die mangelnde Unterstützung Imam Quli Khans vorzutragen. Murad Khan reiste anschließend  nach Kaschmir und trug dem Gouverneur seine Beschwerden vor. Dieser wandte sich daraufhin schriftlich an Imam Quli Khan und forderte ihn zur Stellungsnahme zu den Vorwürfen auf.

Imam Quli Khan antwortete dem Gouverneur, dass sein Großvater und seine Ahnen niemals Untertanen von Murad Khan waren. Murad Khan verdanke sein Königreich in seiner jetzigen Ausdehnung nur seiner, Imam Quli Khans, Macht und Herrschaft. Die Expeditionen nach Gilgit seien Murad Khans Privatangelegenheit gewesen, da er dort von seinem Verwandten und Helfer Habib Khan unterstützt wurde. In Gilgit habe Murad Khan Gold, Rubine, Edelsteine und kostbare Perlen erbeutet, die er nach dem kaiserlichen Erlass über die Kriegssteuer an den Kaiser hätte abliefern müssen. Abschließend fragte Imam Quli Khan an, warum Murad Khan diese Kriegssteuer nicht an den Kaiser ausgehändigt hat und erklärte, dass Murad Khan somit die kaiserlichen Gesetze missachtet hat.

Daraufhin forderte der Gouverneur Murad Khan auf, die den Kaiser zustehenden Besitztümer herauszugeben und bedroht ihn mit der Invasion einer kaiserlichen Armee, wenn er Imam Quli Khan angreifen würde. Murad Khan kehrt unverrichteter Dinge nach Baltistan zurück (Behrouz, S. 124-129).

Die in den Schreiben von Murad Khan aufgestellten Behauptungen über seine Vorherrschaft in Gilgit und Nagar dürften historisch fragwürdig sein. Es ist aber nicht auszuschließen, dass die oben geschilderten Aktivitäten von Jalis Khan und Butah, die Murad Khans Vorherrschaft über Gilgit beendeten, nach dieser Auseinandersetzung mit Imam Quli Khan stattgefunden haben.

Die Pläne, Shigar zur erobern, wurden von Murad Khan nicht weiterverfolgt. Bis zu seinem Tod herrschte nun in Baltistan für einige Jahre Frieden. Allerdings war diese Zeit des Friedens nur von kurzer Dauer.

6. Treffen mit dem Franzosen François Bernier

Das Treffen zwischen Murad Khan und dem Franzosen François Bernier im Jahre 1663 ist deshalb von Interesse, weil es eine Einschätzung von Baltistan und seiner Herrscher aus europäischer Sicht widerspiegelt, die auch von den Reisenden des 19. Jahrhunderts (z.B. Victor Jacquemont) geteilt wurde.

François Bernier war ein Arzt und Weltreisender, der 1659 Indien erreichte und 1663 im Gefolge des Moghul-Kaisers Aurangzeb (1658-1707) nach Kaschmir reiste. In seinem Buch über seine Erlebnisse in Indien beschreibt Bernier, dass er in Kaschmir mit einem König von Klein-Tibet zusammentraf, der nach Kashmir gekommen war, um dem Kaiser Aurangzeb seine Aufwartung zu machen (Bernier, S. 163f) und Geschenke zu überbringen. Bernier berichtet, dass das äußere Erscheinungsbild dieses „kleinen Königs“ und seines „ärmlichen Gefolges“ so armselig war, dass er ihn von daher nicht als Person mit hohem Rang eingeschätzt hätte. Bernier nahm aus Neugier an einem Abendessen mit diesem König von Baltistan teil, um mehr über das Land Klein-Tibet in Erfahrung zu bringen. Der König von Baltistan berichtete Bernier, dass sein Land sehr arm sein und dass es im Hinblick auf Wolle, Moschus und Edelsteine, die jedes Jahr als Tribut an den Kaiser von Indien als Tribut abgeliefert werden müssten, nur geringe Mengen besitze.

Sicherlich war Baltistan stets ein Land, das im Vergleich zu Indien nicht durch besonderen Reichtum gekennzeichnet war. Dennoch entspricht das verharmlosende Bild von einem kleinen, armen Land, dass von einem kleinen König mit einem ärmlichen Gefolge regiert wurde, nicht dem, durch das es sich insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert auszeichnete. Baltistans Herrscher waren machthungrig, krieglüstern und militärisch gefährlich, und die waffentüchtigen Männer dieses Landes standen stets zu militärischen Einsetzen zur Verfügung. Dass dies angesichts der sich über Jahrhunderte hinziehenden, kriegerischen Auseinandersetzungen innerhalb Baltistans für die Bevölkerung dieses Landes letztendlich wirtschaftlich ruinös gewesen sein muß, ist eine andere Frage.

7. Kontakte zum Kaiserhof von Aurangzeb

In dem Geschichtswerk Maāsir-i-´Ālamgiri des Sāqi Must´ad Khan werden zwei Kontakte Murad Khans zum Kaiserhof von Aurangzeb erwähnt, die für die Festlegung der Regierungszeit von Murad Khan von besonderem Interesse sind.  Am 9. Dezember 1665 erfuhr Aurangzeb, dass der König von Ladakh die Unterwerfung seines Landes unter die Moghul-Vorherrschaft akzeptiert hatte. Vorausgegangen war eine Mission von Muhammad Shafi (auch Saif Khan genannt), der im Jahre 1665 als kaiserlicher Gesandter nach Ladakh entsandt worden war (siehe auch Petech, S. 64f). Murad Khan, der als Zamindar von Klein-Tibet erwähnt wird, erhielt für seine Unterstützung dieser Mission vom Kaiser als Geschenk ein Ehrengewand ( Sāqi Must´ad Khan, S. 34). Im Dezember 1667 erreichte Aurangzeb vom Zamindar von Klein-Tibet Murad Khan die Nachricht, dass der Herrscher von Kashgar von seinem Sohn Bulbar Khan abgesetzt worden sei und Zuflucht beim Kaiser von Indien suche (Sāqi Must´ad Khan, S. 42). Dies bedeutet, dass Murad Khan im Jahre 1667 noch in Skardu regierte.

8. Literatur

Banat Gul Afridi: Baltistan in History. Peshawar 1988
Koshrow Behrouz: Shigar- Nāma. Eine persische Verschronik über die Geschichte Baltistans. Kritische Textausgabe, Kommentar und Übersetzung. Unveröffentlichtes Manuskript aus den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts
François Bernier: Travels in the Mogul Empire. Translated from the French by Irving Brook. Vol. II, London 1826
Alexander Cunningham: Ladák. Physical, statistical, and historical; with notices of the surrounding countries. New Delhi 1977 (reprint)
A. H. Francke: Antiquities of Indian Tibet. Part (Volume) II. The Chronicles of Ladakh and Minor Chronicles. Texts and Translations, with Notes and Maps. (Reprint) New Delhi 1972
Hashmatullah Khan: History of Baltistan. Lok Virsa Translation, Islamabad 1987. Das Original in Urdu wurde 1939 veröffentlicht
Ináyat Khán: Sháh Jahán-náma. In: The History of India as Told by its Own Historians. The Muhammadan Period. The Posthumous Papers of the Late Sir H. H.
Elliot. Edited and Continued by Professor John Dowson. Vol. VII. First Indian Edition. Allahabad 1964, S. 73-122.
Sāqi Must´ad Khan: Maāsir-i-´Ālamgiri. A History of the Emperor Aurangzib-´Ālamgir (Reign 1658-1707 A. D.). Translated into English and annotated by Jadu Nath Sarkar. Kolkata 1947. Second Reprint 2008
´Abdu-l Hamíd Láhorí: Bádsháh-náma. In: The History of India as Told by its Own Historians. The Muhammadan Period. The Posthumous Papers of the Late Sir H. H. Elliot. Edited and Continued by Professor John Dowson. Vol. VII. First Indian Edition. Allahabad 1964, S. 3-72
Luciano Petech: The Kingdom of Ladakh. C. 950-1842 A. D. Roma 1977

Autor: Dieter Schuh, 2010

Für wissenschaftliche Zitationen benutzen Sie bitte nur die gedruckte Ausgabe/For scientific quotation please use the printed edition only.