Tibet-Encyclopaedia

 

Abbildung 1: Straßenbild des am linken Ufer des Indus gelegenen Tolti (Oktober 2007)

 Tolti

Tolti (auch Tholdi und TaltÍ geschrieben, Tibetisch: Tol-ti, Tol-rti und rTol-ti) ist eine Oase und Ortschaft in Baltistan (Klein-Tibet). Der Ort liegt am linken Ufer des Indus und ist in südöstlicher Richtung etwa 35 km von Zusammenfluss des Indus mit dem Shayok entfernt. Er ist heute durch eine gut befahrbare Straße, die am linken Ufer des Indus verläuft, leicht von Skardu aus zu erreichen. Tolti gehörte vor 1840 zum Herrschaftsbereich von Kartaksho, einem der sechs kleinen Königreiche Baltistans, wurde aber auch in Abhängigkeit von Karthaksho über längere Zeitperioden von einer eigenen Raja-Familie regiert. Kurz hinter Tolti beginnt heute eine südliche Sperrzone, so dass von hier aus eine Weiterreise nach dem wenige Kilometer entfernten Kharmang, dem Hauptort von Kartaksho, nicht möglich ist.  Besondere Baudenkmäler von Tolti sind die nach 1840 zerstörte Bergfestung, die hoch über dem Industal thront, und die Khanqa-Gebetshalle.

Abbildung 2: Lage von Tolti (Tôlti, unten rechts) nach der im Jahre 1842 von John Walter nach den Angaben von Godfrey Thomas Vigne im Auftrag der East India Company erstellten Karte

 Inhaltsverzeichnis

1. Entdeckungsgeschichte
2. Bevölkerung und Sozialstruktur
3. Zur Geschichte von Tolti und seiner Bergfestung
4. Die Khanqa-Gebetshalle von Tolti
5. Literatur

1. Entdeckungsgeschichte

Die erste Erwähnung von Tolti findet sich in dem 1835 von Captain C. M. Wade veröffentlichten Bericht über Territory and Government of Iskárdoh (S. 595). Hier wird Tolti als einer der neun Distrikte von Baltistan erwähnt, der unter der Herrschaft von Ahmad Shah über ganz Baltistan von dessen Cousin (Raja) Ahmad Khan im Jahre 1829 verwaltet wurde.

Abbildung 3: Oberhaupt der Rājafamilie von Tolti mit Begleitung im Jahre 1914/15 nach De Filippi (S. 40)

Tolti wurde auf der im Jahre 1842 von John Walter nach den Angaben von Godfrey Thomas Vigne im Auftrag der East India Company erstellten Karte „Kashmir; With its Passes; Ladak & Little Tibet, The Mountain Course of the Indus; and the Alpine Pajab generally“ aufgeführt (siehe Abbildung 2). Vigne berichtete über Tolti das Folgende: „At Tolti, which is also a large village, with an eagle´s-nest castle, there is a swing bridge of birch-bark, such as I have described, over the deep an rapid Indus." Vignes Buch enthält eine Abbildung dieser Brücke, die nachfolgend wiedergegeben wird. Die gleiche Brücke existierte noch im Jahre 1914. Ein Photo dieser Brücke aus diesem Jahr wurde 1924 veröffentlicht. Heute existiert diese Brücke natürlich nicht mehr.

Abbildung 4: Die Brücke über den Indus bei Tolti vor 1840 nach Vigne (S. 325)

 

Abbildung 5: Photo der Brücke über den Indus bei Tolti aus dem Jahre 1913 nach De Filippi (S. 39)

 Thomas Thomson (S. 229f, 232) erreichte am 5. Dezember 1847 Tolti, das nach seinen Angaben 12 Meilen von Parkuta entfernt war. Thomsons Bemerkungen über Tollti sind auch heute noch von Interesse: "Tollti was the most gloomy village I have yet seen, the precipitous mountains forming a circle all around it, and almost shutting out the light of day. The bird´s-nest fort in the ravine behind the village, perched on the top of a rock (in a most untenable position, though probably well suited for defence against sudden attack), accorded well with the gloomy aspect of the place. The temperature was here considerably lower than in the more open valley, as large patches of snow lay still unmelted in the fields, though four days had elapsed since its fall." Thomson (S. 242) erwähnt  auch die beiden Seilbrücken von Tolti und Kharmang, die über den Indus gespannt waren.

Am 15. und 16. September 1892 hielt sich William Martin Conway (S. 587f) kurz in Tolti auf. Er erwähnt den damaligen Raja von Tolti als Mohammad Ali Khan und beschrieb dessen Wohnhaus und die Moschee von Tolti wie folgt: "The petty raja´s new-built house, on the summit of a rock, was visible from afar. It is fitted with old latice windows. There is a kind of summer-house or portico on the roof at one end, projecting far outwards and the beams were in place to carry another like it. At one o´clock we halted under the chinar of assembly before the old mosque. It is of low central columned type, and appears to be no longer used."

Im Herbst 1913 erreichte die italienische Expedition von De Filippi den Ort Tolti. Dies war De Filippis zweiter Besuch, nachdem er vier Jahre zuvor diese Oase mit dem Duca degli Abruzzi besucht hatte. Von großer Bedeutung sind die im Winter 1913/14 in Tolti durchgeführten Forschungsarbeiten von Giotto Dainelli, die Hinweise auf die Sozialstrukturen im alten Baltistan liefern.

Historische Quellen, die interessante Hinweise zur Geschichte von Tolti enthalten, wurden schließlich 1926 von A. H. Francke veröffentlicht und übersetzt.

2. Bevölkerung und Sozialstruktur

Nach Giotto Dainelli (de Filippi, S. 85) lebten in Tolti im Jahre 1914 700 Personen. Nach der Volkszählung von 1951 betrug die Bevölkerungszahl 733 Personen. Im Jahre 1961 waren es 713 Personen (Afridi, S. 278). Dies belegt, dass die obige Zahlenangabe von Dainelli sehr zuverlässig ist.

Nach Dainelli kamen auf 100 weibliche Personen 122 männliche Personen, was einen erheblichen Männerüberschuss zu belegen scheint. Zählungen westlicher Wissenschaftler aus den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Ladakh führten zwar zu ähnlichen Ergebnissen, doch konnte hier nachgewiesen werden, dass diese Resultate auf systembedingten Zählfehlern beruhten. Insofern sind diese Ergebnisse der Zählung in Tolti durch Dainelli als fragwürdig zu kennzeichnen. Im Übrigen ergab die offizielle Zählung 1951 Zahl von 373 männlichen und 360 weiblichen Personen. 1961 kamen auf 357 männliche 356 weibliche Personen, was im Grunde belegt, dass die Zahl der Personen männlichen und weiblichen Geschlechts ausgeglichen war.

Im Jahre 1914 bestand die Bevölkerung von Tolti aus 130 Familien, was eine Zahl von ca. 5.4 Personen pro Familie ergibt. Von besonderem Interesse sind die Angaben zu sozialen Rangordnung dieser Familien, wobei Dainelli sechs Klassen unterscheidet. Die erste Klasse wurde von der Familie des Rāja gebildet. Die zweite Klasse bestand aus ca. 25 Familien (19 %), die unmittelbar durch direkte Dienstleistungen mit der königlichen Familie verbunden waren. Die wichtigste dieser Familien war die des Wesirs (Dainelli: Vuasir), der als Haushofmeister oder Minister des Raja tätig war. Zehn Familien (7,7 %) gehörten zur gebildeten Schicht. Ihre Oberhäupter waren somit Priester oder sonstig Lesekundige (intelletuali – sacerdoti e letterati). Die vierte soziale Gruppe bildeten die Bauern mit 60 Familien (46 %). Die fünfte soziale Gruppe bestand aus Musikanten und die unterste Gruppe aus Barbieren und Beschneidern.

Nach Dainelli reichte das Einkommen aus Ackerbau und Viehhaltung nach Abzug der Steuern, die an den Mahārāja von Kashmir zu zahlen waren, nicht aus, um die Familien zu ernähren. Einerseits mussten zusätzliche Gerste, Aprikosen und Hirse importiert werden, was bedeutete, dass man die dazu nötigen Mittel durch Arbeiten als Träger oder durch Fremdarbeit im Ausland dazuverdienen musste.

Abgesehen vom Thalle-Tal liegen keine Forschungsergebnisse über die heutigen ökonomischen Verhältnisse in den einzelnen Dörfen Baltistans vor. In Tolti hat sich ein neues Ortszentrum mit Geschäften entlang der Straße nach Skardu gebildet. Ein Gästehaus für reisende Beamte der pakistanischen Behörden wurde geschaffen. Des Weiteren finden sich in Tolti heute Schulen. Die Bevölkerungszahl hat seit 1961 offenkundig erheblich zugenommen. Vergleichen wir die äußere Erscheinung der Einwohner von Tolti anhand von Bildern aus dem Jahre 1914 (Abbildungen 3 und 6) mit dem heutigen Erscheinungsbild (Abbildungen 7, 8 und 9), so werden erhebliche Veränderungen mehr als deutlich.

Abbildung 6: Einwohner von Tolti überbringen Begrüßungsgeschenke für die Mitglieder der italienischen Expedition von De Filippi im Jahre 1914 (nach De Filippi, S. 85)

 

Abbildung 7: Geschäfte und Einwohner von Tolti (Oktober 2007)

 

   

Abbildung 8: Frauen in Tolti (Oktober 2007)

 

Abbildung 9: Schulmädchen in Tolti (Oktober 2007)

 3. Zur Geschichte von Tolti und seiner Bergfestung

Siehe auch den Hauptartikel  Wohnburgen und Bergfestungen (Khar) in Baltistan (Klein-Tibet)

Tolti gehörte im 17. und 18. Jahrhundert zum Herrschaftsgbiet von Kartaksho, eines der sechs kleinen Königreiche von Baltistan. Der Ort und seine Bewohner waren deshalb stets von den kriegrischen Ereignissen betroffen, die von Kartaksho ausgingen bzw. diese Region heimsuchten.

In historischen Quellen wird Tolti namentlich erstmalig im Zusammenhang mit Ereignissen aus dem Jahr 1723 erwähnt. Nachdem ladakhische Truppen Shigar eingenommen hatten, mussten die Herrscher (jo) von Kartaksho, Parkuta und Tolti mit ihren Wesiren und wehrhaften Männern vor dem ladakischen Heerführer Tshülthrim Dorje (Tshul-khrims rdo-rje) erscheinen und ihre Unterwerfung bekunden.

1734 kam es zu einer großen Schlacht zwischen den Armeen von Skardu und Kartaksho einerseits und von Khaplu und Ladakh andererseits, in der die Balti-Truppen aus Skardu und Kartaksho vernichtend geschlagen wurden. Als Folge dieses Krieges griffen die Sieger unmittelbar in die Verwaltung von Tolti, dessen wehrhafte Männer offenkundig an der Seite der Verlierer gekämpft hatten, ein und ernannten A She-rab zum Fürsten (jo) dieses Ortes.

Die nächsten, Tolti betreffenden Ereignisse datieren ins Jahr 1811. Truppen aus Skardu begannen in dem an der Grenze von Kartaksho (= Kharmang) gelegenen Tolti einen Krieg, der sich offenbar gegen Kharmang und Khaplu richtete und der eine militärische Intervention von Seiten Ladakhs erforderlich machte.

Im Zusammenhang mit der Eroberung von ganz Baltistan durch Ahmad Shah, den Herrscher von Skardu in den 20ziger Jahren des 19. Jahrhunderts, findet sich die Erwähnung von Ahmad Khan, Raja von Tolti, der an der Seite von Ahmad Shah gegen Kharmang erfolgreich Krieg führte. Die Loyalität dieses Herrschers von Tolti gegenüber Ahmad Shah war aber nicht von langer Dauer. Beim Einmarsch von Zorawar Singh in Baltistan im Jahre 1840 wechselte Ahmad Khan ohne Zögern die Seiten und unterstützte den Dogra-Heerführer in dessen erfolgreichen Kampf gegen den Herrscher von Skardu, was ihm und seiner Familie die weitere Regierung über Tolti sicherte.

   

Abbildung 10: Lage der Bergfestung von Tolti am südwestlichen Ortsrand von Tolti (Oktober 2007)

 

Abbildung 11: Mauerreste des Bergfestung von Tolti mit dem Teleobjektiv photographiert (Oktober 2007)

 In den bisher bekannt gewordenen historischen Quellen wird die Bergfestung von Tolti nicht erwähnt. Zu den Ereignissen in der Mitte des 17. Jahrhunderts, die zu der Eroberung von Kartaksho durch Murad Khan aus Skardu und Imam Quli Khan aus Shigar geführt haben, wird zwar im Shigar Nâma die Eroberung der Bergfestung von Parkuta beschrieben, der Ort Tolti und seine Burg werden aber überhaupt nicht genannt. Auch die ladakhischen Quellen, die uns über die militärischen Ereignisse des 18. und des Beginns des 19. Jahrhunderts informieren, erwähnen die Bergfestung von Tolti nicht. Heute sind von dieser Festung nur noch Mauerreste vorhanden.

Abbildung 12: Bergspitze mit den Resten der Bergfestung von Tolti (Oktober 2007)

 4. Die Khanqa-Gebetshalle von Tolti

Siehe auch den Hauptartikel Islamische Khanqa-Gebetshallen in Baltista (Klein-Tibet)

Die Khanqa-Gebetshalle von Tolti steht unmittelbar am Rand der Straße nach Skardu. Das Gebäude wurde vor nicht allzu langer Zeit umgebaut, wobei die Veranda vollständig erneuert wurde. Die für Baltistan untypischen Fensteröffnungen zeigen, dass beim Umbau auch in die Gebäudesubstanz eingegriffen wurde. Die neue Farbgebung der Fassade orientiert sich ebenfalls wenig an dem ursprünglichen Erscheinungsbild der alten Gebetshalle.

Abbildung 13: Nach Osten gerichteter Eingang mit der völlig erneuerten Veranda und die Straßenseite der Khanqa-Gebetshalle von Tolti (Oktober 2007)

 

Abbildung 14: Ostseite der Khanqa-Gebetshalle von Tolti mit ihrem besonderen Dachaufbau. Rechts hat man die alte Fensteröffnung belassen (Oktober 2007)

 5. Literatur

Banat Gul Afridi: Baltistan in History. Peshawar 1988
Khosrow Behrouz: Shigar Nâma. Eine persische Verschronik über die Geschichte Baltistans. Kritische Textausausgabe, Kommentar und Übersetzung. Unveröffentlichtes Manuskript aus den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts
William Martin Conway: Climbing and exploration in the Karakoram-Himalayas, with three hundred illustrations by A. D. McCormick and a map, London 1894
Giotto Dainelli. Beitrag über eine Winterreise in Baltistan in: Filippo De Filippi: Storia della spedizione scientifica Italiana nel Himalaia Caracorum e Turchestan Cinese (1913-1914). Bologna 1923.
Filippo De Filippi: Storia della spedizione scientifica Italiana nel Himalaia Caracorum e Turchestan Cinese (1913-1914). Bologna 1923
A. H. Francke: Antiquities of Indian Tibet. Part (Volume) II. The Chronicles of Ladakh and Minor Chronicles. Texts and Translations, with Notes and Maps. (Reprint) New Delhi 1972
Dieter Schuh: Herrscherurkunden und Privaturkunden aus Westtibet (Ladakh), Halle 2008 (= Monumenta Tibetica Historica, Abteilung III. Diplomata, Epistolae et Leges, Band 11)
Dieter Schuh: Die Herrscher von Baltistan (Klein-Tibet) im Spiegel von Herrscherurkunden aus Ladakh. In: Chomolangma, Demawend und Kasbek. Festschrift für Roland Bielmeier zu seinem 65. Geburtstag. Band 1: Chomolangma, Halle 2008, S. 165-225
Thomas Thomson: Western Himalaya and Tibet; A Narrative of a Journey through the Mountains of Northern India during the Years 1847-8. London 1852
Godfrey Thomas Vigne: Travels in Kashmir, Ladakh, Iskardo. The Countries Adjoining the Mountain-Course of the Indus and the Himalaya North of the Punjab. Volume II, London 2005. Nachdruck der Ausgabe von 1842
C. M. Wade: Notes taken by Captain C. M. Wade, Political Agent at Ludiána, in 1829, relative to the Territory and Government of Iskárdoh, from Information given by Charágh Ali, an agent who was deputed to him in that year by Ahmad Sháh, the Gelpo or ruler of that country. The Journal of the Asiatic Society of Bengal, Vol. IV, January to December 1835, Calcutta 1835, S. 589-601

Autor: Dieter Schuh, 2010. Abbildungsnachweise: Siehe Bildunterschriften. Alle anderen Abbildungen: Dieter Schuh. 

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