Tibet-Encyclopaedia

 

Phugpa-Schule (phug-lugs) der Tibetischen Astronomie

Die Phugpa-Schule (phug-lugs) der Tibetischen Astronomie entstand im 15. Jahrhundert und geht auf das astronomische Werk des Gelehrten Phugpa Lhündrub Gyatsho (Phug-pa Lhun-grun rgya-mtsho) zurück. In den folgenden Jahrhunderten entwickelte sie sich zur einflussreichsten Schule der Astronomie und Kalenderrechnung in Tibet. Im 17. Jahrhundert  wurde der Kalender dieser Schule von der neuegründeten zentraltibetischen Regierung unter dem 5. Dalai Lama übernommen und war von da an der offizielle Kalender Tibets.

Inhaltsverzeichnis

1. Die Entstehung der Phugpa-Schule der tibetischen Astronomie (15. Jahrhundert)
1.1.. Theorie der mittleren Bewegung aller in Tibet bekannten Planeten
1.2. Die große Konjunktion und die Korrektur der Anfangswerte
1.3.. Die Beobachtung der Sonnenwenden und die Krise der buddhistischen Astronomie
1.4. Grundlegende Veränderung der Rechenvorschriften für die Kalenderrechnung und Astronomie
2. Die Blütezeit der Phugpa-Schule (17. - 18. Jahrhundert)
3. Literatur

Siehe auch Hauptartikel: Astronomiegeschichte (Tibet) 

1. Die Entstehung der Phugpa-Schule der tibetischen Astronomie (15. Jahrhundert)

Das 15. Jahrhundert war für die Entwicklung der tibetischen Astronomie ein außerordentlich fruchtbarer Zeitraum. Einer der bedeutendsten Vertreter dieser Entwicklung war der Gelehrte Phugpa Lhündrub Gyatsho. Nach ihm wurde die wichtigste Schultradition der tibetischen Astronomie, die Phugpa-Schule, benannt. In seinem 1447 fertiggestellten, in Prosa verfassten Padma dkar-po'i zhal-lung („Unterweisung des (Königs von Shambhala) Padma dkar-po“) stellt er die neuen Ansätze eines astronomischen Gesamtbildes vor. Ergänzt wurden die umfangreiche Abhandlung des Phugpa Lhündrub Gyatsho durch mehrere Ergänzungstexte des Astronomen und Mathematikers Norsang Gyatsho (Nor-bzang rgya-mtsho). Damit war ein Lehrgebäude geschaffen, dass sich durch folgende Hauptschwerpunkte auszeichnete:

   

Der Astronom Phugpa Lhündrub Gyatsho (1. Hälfte des 15. Jahrhunderts)

 

Der Astronom Norsang Gyatsho (2. Hälfte des 15. Jahrhunderts)

1.1. Theorie der mittleren Bewegung aller in Tibet bekannten Planeten

Mit der Theorie der mittleren Bewegung aller in Tibet bekannten Planeten, genannt „Analyse (der Bewegung der Planeten) nach den drei Tagesarten“ (zhag-gsum rnam-dbye), wurden zum einen mathematisch korrekte Rechenvorschriften zur Bestimmung der siderischen Umlaufzeiten (dkyil-'khor) für alle Planeten einschließlich von Sonne, Mond und Mondbahnknoten in natürlichen Tagen (nyin-zhag), Zodiak-Tagen (khyim-zhag) und lunaren Tagen (tshes-zhag) vorgelegt. Für Sonne und Mond wurden dazu einzig und allein die aus der Vimalaprabhā übernommen Werte

A = 1 + \frac{2}{65} = \frac{67}{65} und

B = 1 - \frac{1 + \frac{1}{707}}{64}

verwendet und mit

 (360 \cdot A) die Umlaufzeit der Sonnen in lunaren Tagen und mit

 (360 \cdot A \cdot B) die Umlaufzeit der Sonnen in natürlichen Tagen

berechnet, wobei mit 360 die Umlaufzeit der Sonne in solaren Tagen angegeben wurde.

Für die siderischen Umlaufzeiten der Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn wurden die in natürlichen Tagen angegeben Werte des Kālacakratantra verwendet.

Zum anderen enthält dieser Teil der Astronomie der Phugpa-Schule Berechnungen zur Veränderung der mittleren ekliptikalen Längen (rtag-longs) aller Planeten pro natürlichen Tag, Zodiak-Tag und lunaren Tag.

1.2. Die große Konjunktion und die Korrektur der Anfangswerte

Nach den Vorstellungen der indischen Astronomie findet die Weltgeschichte in großen Zeitzyklen, auch Weltzeitalter (Sanskrit: Kalpa) genannt, statt, an deren Anfang alle beweglichen Himmelskörper die ekliptikale Länge 0 besitzen, also gleichsam am festgelegten Anfangspunkt der Ekliptik standen, und der Zeitpunkt auf den 1. Tag des 1. Monats des 1. Jahres eines Jahres-Zyklus fiel. Das Kālacakratantra als praktisches Rechenbuch verwendet als Epoche allerdings einen weniger weit zurücklegenden Zeitpunkt, nämlich den Beginn des Monats Caitra (tib.: nag zla ba) des Jahres 806. Die für diesen Zeitpunkt im Kālacakratantra angegebenen Anfangswerte waren somit natürlich nicht gleich 0. Gleichwohl enthält das Kālacakratantra Angaben zu Zeitperioden, an deren Anfang eine große Konjunktion stattgefunden haben soll.

Phugpa Lhündrub Gyatsho konnte zunächst mathematisch nachweisen, dass mit den Anfangswerten des Kālacakratantra das Ereignis einer großen Konjunktion (stong-'jug; „Eintritt in die Leere“) niemals stattfinden konnte.

Diesen grundsätzlichen Mangel im Zahlenwerk des Kālacakratantra erklärte er in Anlehnung an die Vimalaprabhā damit, dass die böswilligen Ungläubigen die Zahlenangaben des Buddha verfälscht hätten.

In Konsequenz schlug er eine Änderung der Anfangswerte vor, was insbesondere die Einschaltung von Schaltmonaten im tibetischen Kalender veränderte. Die Phugpa-Schule errechnete schließlich für den Zeitraum, der zwischen zwei großen Konjunktionen liegt, die fantastische Zahl von 279 623 511 548 502 090 600 Jahren. Dies sind in Zahlennamen ausgedrückt 279 Trillionen, 623 Billiarden, 511 Billionen, 548 Milliarde, 502 Millionen, 90 Tausend und 6 Hundert Jahre.

1.3. Die Beobachtung der Sonnenwenden und die Krise der buddhistischen Astronomie

Für die tibetischen Astronomen spielte die Beobachtung des Sternhimmels eine völlig untergeordnete Rolle. Systematische Beobachtungen des Sternhimmels fanden jedenfalls nicht statt, wurde doch über ein von Buddha gelehrtes Rechensystem verfügt, mit dem die Veränderungen am Sternenhimmel berechnet werden konnte. Diese Einstellung wurde auch nicht durch die Tatsache getrübt, dass die überlieferte Astronomie zahlenmäßig verfälscht war.

 Zwei Phänomene gab es allerdings, bei denen man sich der Beobachtung nicht entziehen konnte: Das eine war die Beantwortung der Frage, ob die errechneten Sonnen- und Mondfinsternisse auch tatsächlich stattfanden, was gelegentlich nicht der Fall war. Da das Eintreffen von Sonnen- und Mondfinsternisse wegen ihrer großen astrologischen Bedeutung durch öffentliche Anschläge vorher bekannt gemacht wurde, waren Fehlprognosen für die Astronomen außerordentlich peinlich.

 In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts belegte die tibetische Regierung unter Sanggye Gyatsho Astronomen, die bezüglich der Sonnen- und Mondfinsternisse falsche Ankündigungen machten, mit Sanktionen. Als Reaktion hierauf wurden die öffentlichen Vorankündigungen durch die Astronomen eingestellt.

Ein weiteres astronomisches Phänomen, das traditionell beobachtet wurde, waren die Winter-und Sommersonnenwenden. Nach dem Kālacakratantra findet die Wintersonnenwende mit dem Eintritt der Sonne in das Tierkreiszeichen Steinbock und die Sommersonnenwende mit Eintritt der Sonne in das Tierkreiszeichen Krebs statt.

In seinem in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts geschriebenen Werk Kālacakrāvatāra hatte der indische Lehrmeister Abhayākaragupta (1084–1130) eine Methode beschrieben, nach der anhand eines als Gnomon (thur-shing) bezeichneten Messstabes der Zeitpunkt der Sonnenwenden gemessen werden konnte. Entsprechende Messungen ergaben nun, dass die Wintersonnenwende mit dem Eintritt der Sonne in das Tierkreiszeichen Schütze und die Sommersonnenwende mit dem Eintritt der Sonne in das Tierkreiszeichen Zwillinge stattfand.

Im Dezember 1466 und im Dezember 1467 führte Norsang Gyatsho begleitet von Zeugen erneut Messungen zur Bestimmung der Wintersonnenwenden durch. Er ermittelte, dass die Wintersonnenwende in beiden Jahren am 22. Dezember stattfand und zwar genau 7 Tage nach Eintritt der Sonne in das Tierkreiszeichen Schütze.

Diese gemessenen Abweichungen in den Zeitpunkten der Sonnenwenden von den Angaben im Kālacakratantra waren nicht mit dem Argument der Verfälschung durch Ungläubige zu erklären. War somit die von Buddha offenbarte Astronomie fehlerhaft?

Die Lösung der damit gegebenen Glaubwürdigkeitskrise ergab sich durch eine nähere Betrachtung des eigentümlichen Weltmodells der tibetischen Astronomie. Hiernach kreisten Sonne und Mond um einen zentralen Weltberg (vgl. Meru), in dessen Süden der dreieckige Kontinent Jambudvī)pa ('dzam-bu gling) mit den Ländern Shambhala, China, Tibet und Indien usw. lag. Sommer- und Wintersonnenwenden wurden dadurch erklärt, dass die Sonne im Sommer hoch im Norden in der Nähe des Weltberges stand, während sie im Winter tiefer im Süden in größerer Entfernung um den Weltberg kreiste. Das hieraus entwickelte Modell der Sonnenbewegung führte zu dem Schluss, dass Winter- und Sonnenwenden in Ost-West-Richtung, also entsprechend der geographischen Länge, variierten.

Obwohl dies mit der Realität nicht in Einklang steht, versuchten die tibetischen Astronomen auf dieser Grundlage, die Abweichungen ihrer Messungen der Sonnenwenden von den Angaben im Kālacakratantra erklären. Da Buddha die Lehren vom „Rad der Zeit“ in Südindien verkündet hatte, war die geographische Länge Tibets mit mehr als 30 Längengraden östlich von Indien festzulegen. Somit wurde also aufgrund einer falschen Annahme über die Variation der Sonnenwenden Tibet geographisch nach Osten verlegt. Diese Lageveränderung hatte zusätzlich große Auswirkung auf den tibetischen Kalender.

1.4. Grundlegende Veränderung der Rechenvorschriften für die Kalenderrechnung und Astronomie

Phugpa Lhündrub Gyatsho legte zwei grundsätzliche unterschiedliche Modelle zur Durchführung der Kalenderrechnung und der sonstigen astronomischen Berechnungen vor.

Im ersten Modell, exakte byed-rtsis genannt, gab er eine Darstellung der Rechenvorschriften des Kālacakratantra, die er aber unter Beibehaltung der Anfangswerte von allen Verkürzungen und rechnerischen Abrundungen bereinigte.

Die Krönung seines wissenschaftlichen Werkes aber war die Vorlage einer Kalenderrechnung und weiterer astronomischer Berechnungen, die er unter der Bezeichnung grub-rtsis als Rekonstruktion der wahren Rechenmethoden der von Buddha im Wurzeltantra gelehrten Astronomie vorlegte. Die wichtigste Grundlage bildeten hierbei insbesondere die Ergebnisse, die er im Rahmen seiner Theorie der mittleren Bewegung der Himmelskörper und im Zusammenhang mit seinen Berechnungen zur großen Konjunktion erzielt hatte.

2. Die Blütezeit der Phugpa-Schule (17. - 18. Jahrhundert)

 

   

Der Astronom Pelgön Thrinle (2. Hälfte des 15. Jahrhunderts)

 

Der Regent und Astronom Sanggye Gyatsho

 In der Nachfolge von Phugpa Lhündrub Gyatsho und Norsang Gyatsho kam es in der Phugpa-Schule zunächst zu Verfeinerungen der Rechenvorschriften zur Theorie der mittleren Bewegung der Himmelskörper. Zu erwähnen ist hier insbesondere der Astronom Pelgön Thrinle (dPal-mgon 'phrin-las), ein Neffe des berühmten Phugpa Lhüngrub Gyatsho. Er wirkte als Hofastronom der Phagmo Drupa-Herrscher und war ein ausgezeichneter Kenner der Sinotibetischen Divinationskalulationen. Von seinen zahlreichen Schriften ist insbesondere sein Werk zur Theorie der mittleren Bewegung der Himmelskörper hervorzuheben, welches unter dem Titel Zhag-gsum rnam-dbye mkhas-pa'i yid-'phrog („Analyse nach den drei Tagesarten, die den Gelehrten den Verstand raubt“) die Grundlage für die entsprechenden Darlegungen des Regenten Sanggye Gyatsho im 17. Jahrhundert bildete.

Von entscheidender Bedeutung für den Aufstieg der Phugpa-Schule zur wichtigsten Schule der tibetischen Astronomie war aber die Verbindung mit der Politik des vom 5. Dalai Lama gegründeten neuen zentraltibetischen Staatswesens im 17. Jahrhundert. Sowohl der 5. Dalai Lama (1617–1682) wie auch sein Regent Sanggye Gyatsho (1653–1705) waren Anhänger der Phugpa-Schule, so dass der Grub-rtsis-Kalender dieser Schule zum offiziellen Kalender des neugründeten Staatswesen wurde. Zudem veröffentliche Sanggye Gyatsho mit seinem 1685 fertiggestellten Vaiḍūrya dkar-po eine umfassende Darstellung der Kalenderrechnung der Astronomie der Phugpa-Schule. Diese Veröffentlichung enthielt auch zahlreiche rechnerische Neuerungen.

Neben dem Vaiḍūrya dkar-po gibt es noch ein weiteres wichtiges Werk aus jener Blütezeit der Phugpa-Schule: Es handelt sich hierbei um eine Abhandlung des Nyingma-Gelehrten Lochen Dharmaśrī (1654–1717), die unter dem Titel rTsis kyi man-ngag nyin-mor byed-pa'i snang-ba („Unterweisung über Kalkulationskunde, Schein des Tagmachers (Sonne)“) veröffentlicht wurde. Diese Abhandlung wurde von Dharmaśrī im Jahre 1681 begonnen und erst 32 Jahre später am 3. April 1713 fertiggestellt. Dharmaśrī, der auch wegen seiner 1684 verfassten Abhandlung über Sinotibetische Divinationskalkulationen Bekanntheit erlangt hatte, wurde 1717 wegen seiner Zugehörigkeit zur Nyingma-pa-Schule von den nach Tibet eingefallenen Dsungaren ermordet.

Literatur

Dieter Schuh: Untersuchungen zur Geschichte der Tibetischen Kalenderrechnung. Wiesbaden 1973
Dieter Schuh: Grundzüge der Entwicklung der Tibetischen Kalenderrechnung. Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Supplement II. XVIII. Deutscher Orientalistentag vom 1. bis 5. Oktober 1972 in Lübeck. Vorträge, S. 554-566
Zuiho Yamaguchi: Chronological Studies in Tibet. Chibetto no rekigaku: Annual Report of the Zuzuki Academic foundation X, S. 77-94 1973
Zuiho Yamaguchi: The Significance of Intercalary Constants in the Tibetan Calender and Historical Tables of Intercalary Month. Tibetan Studies: Proceedings of the 5th Seminar of the International Association for Tibetan Studies, Vol. 2, pp. 873-895 1992
sde-srid Sangs-rgyas rgya-mtsho: Phug-lugs rtsis kyi legs-bshad mkhas-pa'i mgul-rgyan vaidur dkar-po'i do-shal dpyod-ldan snying-nor (Blockdruck)
karma Nges-legs bstan-'dzin: gTsug-lag rtsis-rigs tshang-ma'i lag-len 'khrul-med mun-sel nyi-ma ñer-mkho'i 'dod-pa 'jo-ba'i bum-bzang (Blockdruck)
Phug-pa Lhun-grub rgya-mtsho: Legs par bshad pa padma dkar-po´i zhal gyi lung. Beijing 2002

Autor: Dieter Schuh, 2010