Tibet-Encyclopaedia

 

 

Abbildung 1: Titel des Gesetzestextes  gTsang-pa´i khrims-yig chen-mo. Handschriftenrolle aus der Sammlung der National Archives, Kathmandu, Nepal 

Tibetisches Kompensationsrecht (stong-´jal)

Den Tibetern war das Vergeltungsrecht der Mongolen zur Yüan-Zeit (13. – 14. Jahrhundert) unakzeptabel und sie griffen nach der Mongolenzeit, also ab der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts, auf das von ihnen bevorzugte, ältere Kompensationsrecht zurück. Dieses regulierte bestimmte Verbrechen statt durch Vergeltung oder Strafe mit Wiedergutmachung. Die buddhistische Begründung für die erneute Einführung des Wiedergutmachungsrecht war, dass Blutvergiessen nicht mit Blutvergiessen gesühnt werden sollte, denn dies wurde neben der eigentlichen verwerflichen Tat als ein weiteres verwerfliches Vergehen angesehen.

In bestimmten Abschnitten der tibetischen Gesetzbücher (khrims-yig) wird die Höhe der Entschädigungsleistungen bei Totschlag, mutwilliger Verletzung und Diebstahl behandelt. In der streng hierarchisch geordneten tibetischen Gesellschaft variierte die Höhe der Zahlung je nach der sozialen Stellung getöteter oder geschädigter Personen. Das Wiedergutmachungsrecht wurde in weiten Teilen des tibetischen Hochlandes angewendet. Es wurde selbst in abgelegenen Gebieten, wie in dem heute zu Nepal gehörenden Süd-Mustang, praktiziert.

Inhaltsverzeichnis

1. Begriffsklärung
2. Hierarchische Staffelung
3. Zusätzliche Gebühren
4. Sonderregelungen
5. Literatur

Abbildung 2: Schlußteil des Gesetzestextes  gTsang-pa´i khrims-yig chen-mo. Handschriftenrolle aus der Sammlung der National Archives, Kathmandu, Nepal

1.Begriffsklärung

Die Kompensationszahlung als Wiedergutmachung für Mord oder Totschlag wurde als Tongjel (stong-'jal) oder Tongsang (stong-srang) bezeichnet. Im Gesetzestext g.Yu-'brug sgrog-gi zhal-lce wird der Terminus Tong (stong) auf Grundlage der verschiedenen Bedeutungen des Wortes wie folgt erklärt: „Er heisst stong [leer, nichtig], weil das Schicksal des Getöteten vereitelt worden ist; er bedeutet stong [tausend], weil früher die Entschädigungsleistung bei hochstehenden Personen tausend srang oder zho betrug; es heisst stong, weil die Vertreter der Anklage „eine erbetene Reduzierung gewähren mussten!“ (zhu-chag gtong dgos)“. Neben der Bezeichnung Tongjel gab es auch den Terminus "Substitutszahlung für den Leichnam" (ro-dos oder ro-dod).

2. Hierarchische Staffelung

Die traditionelle tibetische Gesellschaft war in neun soziale Schichten unterteilt: In eine hohe mit drei Rangstufen, in eine mittlere mit drei Rangstufen und in eine untere mit ebenfalls drei Rangstufen. Die Bezeichnungen für die einzelnen Rangstufen sind 1. hoch-hoch, 2. hoch-mittel, 3. hoch-niedrig, 4. mittel-hoch, 5. mittel-mittel, 6. mittel-niedrig, 7. niedrig-hoch, 8. niedrig-mittel, 9. niedrig-niedrig. Zur höchsten Rangstufe zählten hohe geistliche und weltliche Würdenträger oder Machthaber, zur untersten Jäger, Schlachter und Schmiede.

Beispielsweise betrug gegen Ende des 17. Jahrhunderts die Kompensationszahlung für die Tötung einer Person der 5. Rangstufe [mittel-mittel] 60 srang. Davon wurden noch die 10% für die Zahlung (grva/gra-phud) an den Richter abgezogen, so dass die Hinterbliebenen eine Summe von 54 srang erhielten. Der Regent Sanggye Gyatsho (Sangs-rgyas rgya-mtsho) weist in seinem Antwortschreiben an den Herrscher von Sikkim daraufhin, dass in der Praxis die Zahlungen nicht in der Höhe der Währungseinheit srang, sondern in der Höhe der Währungseinheit zho waren, was eine erheblich Reduzierung des Betrages darstellte. 
Eine detaillierte Übersicht über die Höhe der Kompensations- und Strafzahlungen für Tötungen von Personen findet sich in dem Gesetzestext gTsang-pa´i khrims-yig chen-mo. Die Angaben dort lauten:

200 srang für hohe Würdenträger, die berechtigt waren bei Audienzen mit dem Dalai Lama einen zubereiteten Sitzplatz einzunehmen.

200 srang auch für Lehrmeister der Klosterschulen und Geistliche, die mehreren kleinen Klöstern vorstehen.

Die Strafzahlung betrug in beiden Fällen 15 srang.

Im Falle von höheren Laienbeamten belief sich die Kompensationszahlung je nach Rang von 120 bis zu 90 srang und die Strafzahlung von 9 bis zu 5 srang.

Im Falle von Beamten mittleren Ranges betrug die Höhe der Kompensationszahlung 80 srang und die der Strafzahlung 4 srang.

Im Falle von Personen, die eine mittlere Position in der sozialen Hierarchie einnahmen, wie die Verwalter der Getreidelager und Vorratshäuser, die Aufseher der Reit- und Transporttiere, die Steuerbauern usw. betrug die Kompensationszahlung 60 srang und die Strafzahlung 3 srang.

Im Falle von Privatleuten betrug die Entschädigung 40 srang und die Strafzahlung 3 srang.

Im Falle von Personen kleiner Haushalte, von alleinstehenden jungen Männern, von Schmieden und Schlachtern usw. betrug die Entschädigung von 30 srang bis zu 20 srang, je nach Situation, und die Strafzahlung 3 srang.

3. Zusätzliche Gebühren

Neben der eigentlichen Entschädigungszahlung gab es noch andere Gebühren, die vom Täter zu entrichten waren. Dies waren die Strafzahlungen (chad-pa) und die Gerichtsgebühren (khrims-'degs, die in alter Zeit auch als sku-rgyal bezeichnet wurden).

Von der Entschädigungszahlung an die Hinterbliebenen wurden 10% abgezogen. Diese Summe von 10% hiess gra-phud und ging an die Richter (bar-mi). Andere Bezeichnungen für diese Gebühr sind sna-phud, sdig-gla oder bcu-kha lon-pa.

Die Strafzahlung variierte je nach Höhe der Kompensationszahlung und stand auch in Relation zur sozialen Position des Getöteten.

Von den Gerichtsgebühren gingen ein Viertel an die Gerichtsdiener (babs) und von diesem Viertel wieder ein Viertel an die Gerichtsschreiber (smyug).

Zusätzliche Strafgebühren (chad-shul) gingen an andere Helfer des Gerichtsverfahren und auch die Verpflegung der Gerichtsgemeinde (tshogs-chas) war von dem Straftäter zu tragen. Über die Höhe dieser beiden Gebühren geben die Quellen keine genaue Auskunft.

Ebenso hatte der Straftäter die Aufwendungen für die Bestattung (dge-chas oder ro-chas) zu tragen. 

Abbildung 3: Gesetzbuch (Bem-chag) von Kagbeni in Südmustang mit kompensationsrechtlichen Regelungen (´jal) für Diebstahl

4. Sonderregelungen

Kinder bis zu acht Jahren waren straffrei. Starb jemand bei einem unbeabsichtigten Unfall, dann wurde in der Regel von der den Unfall verursachenden Person nur die Strafgebühr gefordert, nicht aber die Kompensationszahlung

Wurden Diebe in flagrante delicto getötet, musste an die Hinterbliebenen keine Kompensation entrichtet werden, manchmal jedoch mussten die Bestattungskosten für die erschlagene Person vom Täter übernommen werden.

5. Literatur

Anonym: gTsang-pa´i khrims yig chen mo, Handschriftenrolle der National Archives in Kathmandu, Nepal. [Gesetzestext in 12 Abschnitten (zhal lce bcu gnyis)]
Christoph Cüppers: Die Reise- und Zeltlagerordnung des Fünften Dalai Lama. In: Pramanakirtih - Papers dedicated to Ernst Steinkellner on the Occasion of his 70th Birthday, Wien 2007, part 1, S. 37-51.
Rebecca Redwood French: The Golden Yoke - The Legal Cosmology of Buddhist Tibet. Cornell University, Ithaca, 1995.
Leonard W.J. van der Kuijp: The Yoke is on the Reader: A Recent Attempt at Studying Tibetan Jurisprudence. Central Asiatic Journal 43 (1999), 266-292.
sDe-srid Sangs-rgyas rgya-mtsho: 'Bras ljongs bstan srung rnam rgyal gyis sde srid sangs rgyas rgya mtshor khrims skor dogs sel zhus pa'i dri ba dris lan, Bod kyi snga rabs khrims srol yig cha bdams bsgrigs, Gangs can rig mdzod, Bd. 7, S. 185-197. Lhasa 1989. [Die Antworten des Regenten Sanggye Gyatso auf die Fragen des sikkimesischen Herrschers zum tibetischen Recht]
Dieter Schuh: Recht und Gesetz in Tibet. Tibetan and Buddhist Studies Commemorating the 200th Anniversary of the Birth of Alexander Csoma de Körös, S. 291-311. Budapest 1984.
Dieter Schuh:  Investigations in the History of the Muktinath Valley and Adjacent Areas, Part II. Ancient Nepal 138, 1995, S. 5–54, 14 Tafeln. Auch erschienen in: Archaeological, Historical and Geographical Reports on research activities in the Nepal-Tibetan border area of Mustang during the years 1992-1998, Bonn 1999.

gTsang pa sde srid bstan skyong dbang po'i dus su gtan la phab pa'i khrims yig zhal lce bcu drug. Bod kyi snga rabs khrims srol yig cha bdams bsgrigs, Gangs can rig mdzod, Bd. 7, S. 82-145. Lhasa 1989. [Gesetzestext in 16 Abschnitten, der zur Zeit des Herrschers von Gtsang zusammengestellt wurde.]
Ta la'i bla ma sku phreng lnga pa'i dus su gtan la phab pa'i khrims yig zhal lce bcu gsum. Bod kyi snga rabs khrims srol yig cha bdams bsgrigs, Gangs can rig mdzod, Bd. 7, S. 146-184. Lhasa 1989. [Gesetzestext in 13 Abschnitten, der zur Zeit des Fünften Dalai Lama verfasst wurde.]

Autor: Christoph Cüppers, 2010. Bildnachweise: Abbildungen 1 und 2:  Christoph Cüppers. Abbildung 3: Dieter Schuh.